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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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Wohl oder übel musste der Wirt mit dem gespenstischen Manne gehen. Der führte ihn zuerst in ein prächtiges unterirdisches Schloss und bewirtete ihn aufs Beste; dann brachte er ihn wieder auf die Oberwelt und in einen nah gelegenen Bauernhof, wo gerade eine Hochzeit gefeiert wurde. Niemand von den Anwesenden aber vermochte, die beiden zu sehen. Der Vampir trat von hinten an die Braut heran, biss sie in den Hals und sog ihr alles Blut aus, sodass sie tot zu Boden sank. Die Gäste gerieten in Furcht und Verzweiflung, der Unhold aber zog seinen Begleiter schnell mit sich fort.
    »Kann die Braut denn gar nicht mehr lebendig gemacht werden?«, fragte der Bauer.
    »Gewiss«, erwiderte der Vampir, »aber wer kennt das Mittel? Man muss ihr einen Schnitt in den kleinen Finger der linken Hand machen und von dem heraussickernden Blute drei Tropfen in den Mund träufeln; dann wird sie wieder heil und gesund.«
    Sie gingen weiter und kamen in eine Bauernhütte, wo, bei Branntwein und Bier, gerade Kindtaufe gefeiert wurde. Der Vampir trat an die Wiege des Neugebornen, biss das arme Würmchen in den Hals und sog ihm das Blut aus. Die Mutter begann, zu weinen und zu jammern, alle Gäste aber gerieten in großen Schrecken.
    »Auch dieses Kind kann man auf dieselbe Weise wieder zum Leben erwecken«, sagte der Unhold und führte seinen Begleiter fort. Jetzt kamen sie an ein Haus, wo gerade ein Beerdigungsschmaus stattfand. Der Vampir wollte hineingehen, prallte aber von der Tür zurück, denn auf derselben befand sich die Zeichnung eines zauberischen Fünfecks, welches alle bösen Geister bannen sollte. Jetzt sagte der Wirt: »Lass mich auf einen Augenblick hinein, ich habe großen Hunger!« Der Vampir erlaubte es, unter der Bedingung, dass der Bauer so schnell als möglich wiederkomme. Der aber dachte nicht daran. Einmal in Sicherheit, blieb er, trotz aller Mahnungen des draußen harrenden Unholdes, hinter der schützenden Tür, bis der Hahn krähte. Da verschwand der Vampir, der Bauer aber wurde allen Gästen sichtbar und erzählte denselben, wie’s ihm ergangen. Am andern Morgen rief er die Braut und das Kindlein wieder ins Leben zurück. Dann begaben sich alle auf den Friedhof, wo sie das Grab und den Sarg des Vampirs öffneten. Richtig, da lag der Unhold auf dem Gesicht; er hatte wohl keine Zeit mehr gehabt, sich auf den Rücken zu kehren. Sie schlugen ihm den Kopf ab, legten diesen zu den Füßen des Leichnams und versahen den Sargdeckel mit dem zauberischen Fünfeck. Seitdem irrte der tote Nachbar nicht mehr als Vampir umher.

Nachbemerkung
    Als Nacherzählung eines Märchens greift Andrejanoffs »Der Vampir« natürlich weniger das literarische Vampirmotiv als vielmehr das der Volkserzählungen auf. Dazu gehört, dass der Vampir zu einem solchen wurde, weil er ein schlechtes Leben geführt hatte – der Text codiert dieses mit der Beschreibung des angehenden Vampirs als Querulant. Auch das scheuende Pferd, das schützende Pentagramm und der mit dem Gesicht nach unten liegende Leichnam gehören dazu. Interessanterweise wird gleich zu einem krassen Schritt in der Vampir-Vernichtung gegriffen: Die Pfählung wird übersprungen, die Leiche wird gleich enthauptet und der Kopf ihr zu Füßen gelegt – damit der Vampir ihn nicht wieder aufsetzen kann. Dies gehörte in Sagen mit Untoten zum üblichen Vorgehen bei Wiedergängern, die nach der Pfählung aktiv blieben.
    Die Wiederbelebung der Opfer wird mit einer Variante des Bekannten erreicht: Sie brauchen eine symbolische Bluttransfusion, allerdings des eigenen Bluts. In Sagen schützt bzw. heilt üblicherweise das ritualisierte Aufnehmen des Vampirbluts, entweder in besonderem Brot eingebacken, mit Erde vermischt als Umschlag etc. Näheres dazu findet man in Kreuters »Der Vampirglaube in Südosteuropa«.
    Wirklich ungewöhnlich ist die Schilderung, dass der Vampir seinen Opfern in den Hals beißt und ihr Blut saugt. Dies findet sich meines Wissens in keinem anderen Vampirmärchen. Es wäre darum sehr aufschlussreich, wäre die Originalfassung des Märchens bekannt. Ich vermute, dass der Biss in den Hals eine Anpassung des Stoffs an die zeitgenössische Entwicklung ist; der Umstand, das Blut gesogen wird, könnte durchaus schon im Original zu finden sein. Letztlich bleibt es aber Spekulation.

Vorbemerkung
    Hermann Löns wurde 1866 in Kulm, Westpreußen, geboren. Er wuchs jedoch in Westfalen auf. Er studierte Naturwissenschaft und Medizin in Münster, Greifswald und Göttingen,

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