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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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Familienleben arg gestört: Zur Mutter will der Bruder nicht, vom Vater hört man nichts, die Gattin betrügt der Bruder mit einer Ersatz-Agaj und ein Begehren projiziert er anscheinend schon seit der Gewitternacht zumindest unterschwellig auf die Schwester. Diese steht zwischen der Mutter mit ihrer Bürgermoral und dem Bruder, der diese verachtet. Der Bruder nimmt eine sonderbare Rolle ein – sie sucht den schützenden Vater, doch er will nur den Liebhaber geben. Ihre Reaktion darauf ist jenes quälende Spiel, das sich verselbstständigt. Sie darf den Liebhaber nicht völlig abweisen, um den Vater-Ersatz nicht zu verlieren, darf sich ihn aber auch nicht völlig hingeben, um die Mutter nicht zu verlieren. Nach langen Jahren hat sie dieses Spiel verfestigt und so weit verselbstständigt, dass Agaj im Quälen des Bruders ihre Bestätigung findet.
    Das macht sie zu einem so interessanten Psychovampir: Statt den körperlichen Verfall oder Tod des Opfers herbeizuführen wie in den Klassikern »Der Parasit« (1894) von Sir Arthur Conan Doyle oder »Luella Miller« (1902) von Mary Wilkins-Freeman lebt der Vampir von extremen Emotionen; dies findet sich sonst erst wesentlich später in der 1949 veröffentlichten Kurzgeschichte »Das Mädchen mit den hungrigen Augen« von Fritz Leiber.
    Auch wenn die übernatürlichen Elemente des Vampirismus auf die Fieberfantasien des Bruders zurückgehen, ist Agaj nicht bloß im übertragenen Sinn ein Vampir: Ihr Saugen von Emotionen ist zwar nicht im herkömmlichen Sinne übernatürlich, aber eben auch nicht materieller Natur – es ist in einer Zwischenebene verankert. Hierbei ist zu bedenken, dass Siegmund Freuds Psychoanalyse gerade erst im Entstehen begriffen ist.

Vorbemerkung
    Viktor von Andrejanoff wurde 1857 in Koslow in Russland geboren. Sein Vater erhielt jedoch bald darauf den Posten als Chef der livländischen Gendarmerie im Range eines Generals, und so zog die Familie nach Riga. 1876 studierte der Sohn Nationalökonomie in Dorpat. Er wechselte 1878 nach Jena, um Philosophie zu studieren, doch schon 1879 beendete ein Pistolenduell seine akademische Laufbahn. Nach kurzer Festungshaft kehrte er zu seiner Familie nach Riga zurück. Dort erprobte er sich als Dichter und Journalist. Er zog sich für seine scharfzüngigen Kritiken jedoch mehr und mehr Feindschaft zu, deren Druck er letztlich nicht gewachsen war. Sein Vater ermöglichte ihm nach einer Ruhepause 1894 einen Umzug nach Berlin, wo er 1895 nach einer kurzen Phase großer Produktivität starb.
      
    Andrejanoff war von Geburt ein Russe, nach Erziehung und Bildung ein Deutscher. Er konnte als Journalist und politischer Dichter mit seinen bitteren Satiren und Glossen eine kurze, lokale Bekanntheit erringen, nach seinem Ausscheiden aus diesem Feld geriet er allerdings weitgehend in Vergessenheit. Als Dichter war er in erster Linie ein Lyriker auf der Suche nach dem Schönen und Edlen. Später löste er sich von seinen früheren Vorbildern wie Lord Byron und Percy Bysshe Shelley und wandte sich den Schriften Friedrich Nietzsches zu.
    Von diesen Tendenzen bleibt die folgende Geschichte »Der Vampir« jedoch unberührt. Die Nacherzählung eines lettischen Märchens ist erstmalig 1896 in der Sammlung »Lettische Märchen« erschienen.

Der Vampir

— Viktor von Andrejanoff
    Es waren einmal zwei Nachbarn, die lange Zeit in bester Freundschaft miteinander gelebt hatten. Aus irgendwelchem nichtigen Grunde aber entzweiten sie sich und wollten nun nichts mehr voneinander wissen. Der eine, welcher ein Querulant war und immer in allerhand Prozessen steckte, kehrte eines Tages aus der Stadt, wo er einen gerichtlichen Termin gehabt, zurück, trat in seine Stube, fiel hin und war auf der Stelle tot.
    Da half nun nichts – wer tot ist, bleibt tot –, man musste den Verstorbenen, wie sich’s gebührt, bestatten.
    Einige Wochen später fuhr der andere Wirt zur Stadt. Auf dem Heimwege, es war schon dunkler Abend, musste er am Friedhof vorbei. Gerade als er bei der Pforte vorüberwollte, blieb sein Pferd stehen und ging, trotz aller Schläge und Flüche, nicht von der Stelle. Es erhob sich ein starker Wind und aus einem noch frischen Grabe stieg ein großer weißer Mann mit hohen schwarzen Stiefeln, in der Hand einen mächtigen Dolch. Der sprach zu dem Bauern: »Tritt nur ein und sieh, wie’s mir jetzt ergeht, ich bin ja dein gewesener Nachbar. In dieser Nacht musst du sterben, aber ich will dir zuerst für deine Wohltaten danken!«

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