- Lasst die Toten ruhen
brach sein Studium jedoch aufgrund seiner Trunksucht ab. Von 1891 bis 1913 war er an verschiedenen Orten, hauptsächlich jedoch Hannover, als Journalist tätig. Darauf war er für kurze Zeit freier Schriftsteller, doch schon 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und starb noch im selben Jahr vor Reims.
Löns hat ein sehr zwiespältiges Bild hinterlassen. Zum einem wird ihm positiv wegen seiner Natur- und Heimatverbundenheit gedacht, die unter anderem in einigen volkstümlichen Gedichten zum Ausdruck kommt; aus diesem Grund wird Löns oftmals als »Heidedichter« bezeichnet. Zum anderen war er nach Thomas Dupkes Biografie »Hermann Löns. Mythos und Wirklichkeit« (Hildesheim 1994) ein sehr labiler Mensch, der seinen Minderwertigkeitskomplex mit einem Hang zu Alkohol und Gewalttätigkeiten auszugleichen suchte. Beide Charakteristika Löns’ schlagen sich in seinem wichtigsten Roman, dem 1910 veröffentlichten »Wehrwolf« nieder. Darin geht es um eine bäuerliche Wehrgemeinschaft unter Harm Wulf, die ihre Heimat gegen streunende Söldner des Dreißigjährigen Krieges verteidigen. Der Grundtenor des Romans ist klar fremdenfeindlich und gewaltverherrlichend. Zwar hat sich Löns zu Lebzeiten gegen eine Vereinnahmung seines Romans durch politische Ideologien gewehrt, doch seine Haltung war sehr kompatibel mit der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Zusammen mit der Tatsache, dass Löns Kriegsfreiwilliger war und damit aus Nazisicht einen Märtyrertod in Frankreich starb, führte dies zu einer Vereinnahmung durch die Nazis. Adolf Hitler ließ 1934 Löns’ vermeintlichen Leichnam unter fragwürdigen Umständen identifizieren, durch die SA nach Deutschland überführen und 1935 mit allen militärischen Ehren bestatten. Allerdings denunzierte Adolf Bartels Löns als zu einem Zweiunddreißigstel jüdisch und daraufhin kam es zu einer klammheimlichen, aber nicht minder deutlichen Distanzierung; so wurde etwa ein gesetztes Denkmal wieder geschleift. Dieser Umstand wird in der bürgerlichen Erinnerungskultur selten erwähnt – Neonazis diskutieren dagegen noch immer, ob Löns einer von ihnen war. Die Distanzierung der Nazis tat im Übrigen der Popularität Löns’ im Dritten Reich keinen Abbruch – in den vierziger Jahren hatte der »Wehrwolf« eine größere Auflagenstärke als Hitlers »Mein Kampf«. Später wurden die nationalsozialistischen Widerstandsgruppen nach dem Vorbild des Romans »Werwölfe« genannt; sie konnten freilich nie nennenswerte Ergebnisse erzielen. Nach dem Krieg wurde der Roman von den Alliierten indiziert. In den achtziger Jahren wurden schließlich Löns’ Kriegstagebücher veröffentlicht; seine anfängliche Kriegsbegeisterung wich bald einer Kriegsmüdigkeit. Daraus einen leisen Wandel zum Pazifismus ablesen zu wollen, ist wohl naiv, doch diese Seiten illustrieren, dass Menschen oftmals vielschichtiger sind als deren politische Rezeption. Über die Diskussion um den Menschen Löns wurde der Schriftsteller lange Zeit vergessen; erst in den letzten Jahren begann eine vorsichtige Neubewertung der literarischen Bedeutung seiner Werke.
Die folgende Kurzgeschichte »Der Vampir« berühren weder Fremdenfeindlichkeit noch Gewalttätigkeit und auch Löns Heimat- und Naturverbundenheit findet in ihr nur einen schwachen Nachhall. Sie wird zu den »Kleinen Erzählungen« gerechnet und ist vermutlich um 1900 herum veröffentlicht worden; ein genaues Datum ist unbekannt.
Der Vampir
— Herman Löns
In die weit geöffneten Fenster meiner altertümlichen Stube drängt sich die warme, feuchte, von Flieder- und Jasminduft versüßte Mainachtluft und ringt in dem breiten Fensterrahmen mit blauen Tabakswolken. Aus dem Weidengebüsche des Goldfischteichs ertönt das lebhafte, wechselreiche Lied des Sumpfrohrsängers und verschlingt sich mit den Jubelgesängen fern schlagender Nachtigallen zu wundersamen Tonarabesken. Ab und zu saust ein großer, matt gefärbter Abendfalter in das Zimmer, peitscht die Lampenglocke mit den starken Schwingen und huscht wieder hinaus. Die Riesenplatanen im Garten rauschen schläfrig.
Ich lese ein medizinisches Werk, trocken, schmucklos, in kurzen Sätzen geschrieben; ich bin so nüchtern gestimmt und verfolge die trockenen Sätze so genau und ruhig, als ob es Rechnungen wären. Die Fantasie habe ich zu Bette geschickt.
Draußen auf der alten Steintreppe neben dem blühenden Fliederstrauche steht jemand; ein bleiches Gesicht schaut zum Fenster hinein und
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