- Lasst die Toten ruhen
was übrigens Ihre Existenzberechtigung anbetrifft, verehrtes Wesen aus einer mir als Mediziner furchtbar gleichgültigen Welt, so spreche ich Ihnen dieselbe gänzlich ab. – Sie bestehen tatsächlich nur aus amorphen Wölkchen von Tabaksqualm mit einer geringen Dosis von Mondschein; um dieses dürftige Machwerk haben meine krankhaft überreizten Nerven einen subjektiven Rahmen gezimmert, und die Fantasie ist der wackelige Nagel, an dem der ganze Zauber in der Luft hängt.«
Sie rührt sich nicht; selbst dieser schneidende Sarkasmus lässt sie kalt.
»Also, Fräulein, da Sie nur aus Qualm, Mondschein, Nerventäuschung und Gehirnüberreizung zusammengesetzt sind, so sind Sie
1. überhaupt nicht vorhanden, haben also
2. nicht das Recht, den geringsten Einfluss auf mich auszuüben, und
3. nicht einmal die Macht dazu und würden
4. gut tun, Ihr erheucheltes Scheinsein aufzugeben. Sie tun das natürlich nicht, weil Sie keine Spur von Logik haben. Gespenster sind stets dumm.«
Selbst Grobheit prallt von der bleichen, ruhigen Gestalt ab.
»Wenn Sie nicht bald verduften, dann gehe ich ins Wirtshaus.«
»Ich kann ja nicht.«
»Wer hindert Sie denn daran?«
»Du.«
»Das ist sehr gut. Nachdem ich Bände voll von Ironie, Hohn, Sarkasmus, Logik und Grobheit vergeudet habe, um Sie hinauszugraulen, sprechen Sie ein solches Wort. Wodurch halte ich Sie denn?«
»Du denkst an mich!«
»Dies ist noch schöner. Ich weiß nicht, wer Sie sind, und soll an Sie denken! Wer sind Sie denn?«
Sie tritt ganz nahe an mich heran. Ich erkenne sie. Ich stütze die Stirn in die Hand und denke an die Tote. Sie war schön, aber unscheinbar; einen Liebsten hatte sie nie gehabt; ihre Eltern waren sehr fromme, sehr strenge, sehr reiche Kaufleute; so wurde sie dreiundzwanzig Jahre alt. Ich lernte sie auf einem Balle kennen. Da ich fürchtete, mich in sie zu verlieben, und dieses abgeschworen hatte, vermied ich es, ihr zu begegnen. Eines Abends ging sie vor mir her nach Hause zu. Sie erblickte mich, und ich grüßte. Fast hätte ich sie angesprochen, so reizend sah sie aus. Sie errötete – ich sah ihre Wangenblumen nicht. Ihre Augen leuchteten – mich erwärmten die Strahlen nicht. Sie lächelte demütig-süß – der trotzige Wille, allein zu sein, goss roh die aufglimmende Glut in meinem Herzen aus, und kalt ging ich vorbei. Leise und müde hörte ich ihre Schritte hinter mir verhallen. Vier Tage später erzählte mir ein Bekannter, dass sie sich ertränkt habe. Ich ging sofort nach Hause, zog die langen Stiefel an, nahm meine Pfeife und den dicken Eichenknüppel und strolchte planlos durch die Heide – mein altes Mittel gegen Gemütsbewegungen. Aber ob im Kiefernwalde oder auf dem gelben Sande, auf brauner Heide oder schwarzem Moor – ich sah immer das bleiche Gesichtchen, den nie geküssten Mund und die traurigen Augen vor mir, hinter mir, neben mir. Ich sah ihre Tränen in schlaflosen Nächten und das bittere Zucken des kleinen Mundes, als sie in den schlammigen Stadtgraben sprang. Ich sah sie vor mir an jenem Abend, ich sprach sie an, ihre Augen strahlten; ich nahm ihre Hand, zitternd schmiegte sie sich an mich; ich küsste sie, ihre Wangen färbte das Morgenrot ungehofften Glückes. Sie blieb mir treu; ich sah ihr Bild im Laube der Bäume, im Wasser der Teiche, in den Fenstern der Häuser, auf den Blättern der Bücher, in der Linse des Mikroskops. Hundert kleine Züge ihres Wesens tauchten vor mir auf, die mir alle zugeschrien hatten: »Ich liebe dich! Liebe mich auch! Liebkose mich mit deinen Augen! Berausche mich mit deiner Stimme. Streichle leise mein Haar! Lege deinen Arm um mich! Sag mir, du liebst mich! Küsse meine Augen, meinen Mund, meine Stirn! Nimm mich hin!«
War ich denn blind?
Endlich nach langen Kämpfen verbrannte ich durch angestrengtes Arbeiten das bleiche Bild aus meinen Gedanken. Einen Monat hindurch hatte ich Ruhe vor ihr. Und jetzt ist sie wieder da.
»Du dauerst mich, ruhelose Tote! Sprich, liebes Kind, was willst du? Ich helfe dir gern, wenn ich es vermag!«
Die blassen, traurigen Mienen hellen sich auf, ein Zug unsäglich weicher Hingebung durchflimmert das arme, tote Gesichtchen.
»Hab mich lieb!«
»Aber Kind, wie kann ich das; ich lebe und du bist tot.«
»Du musst!«
»So? Warum muss ich?«
»Du träumst von mir!«
Sie bittet und fleht nicht; ihrer Sache anscheinend ganz sicher, steht sie ruhig, still und unbewegt vor mir.
»Mädchen, warum hast du es mir, dem Argwöhnischen und
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