- Lasst die Toten ruhen
Vielmisshandelten, nicht deutlicher zu verstehen gegeben, dass du mich so sehr lieb gehabt hast?«
»Ich bin ein Weib.«
Langsam, zögernd, unschlüssig, unter müden, ängstlichen Pausen entkleide ich mich; matt strecke ich mich in die Kissen, eine warme Hand drückt mir die Augen zu; verworrene Gedanken reichen sich mit bunten Träumen die Hände – bald werde ich schlafen.
Da! Ein eiskalter, bleischwerer Faustschlag auf mein Herz. Der Atem stockt mir, laut und scharf hämmern die schmerzlichen Herztöne. In Todesangst, mit weit aufgerissenen Augen und nasskalter Stirne fahre ich in die Höhe. Ich sehe nichts. Zitternd zünde ich das Licht an. Am ganzen Körper fliegend, dass die Flaschen in meinen Händen klirren, zähle ich zwanzig Tropfen Digitalistinktur in das Wasserglas, jeden Augenblick Erstickung oder einen Schlaganfall erwartend. Ich trinke die abscheulich schmeckende Mischung hinunter und werde allmählich ruhiger. Bleischwere Müdigkeit stößt meinen Kopf in die Kissen zurück. Schläfrige Gedanken kokettieren mit halb erwachten Träumen. Bald schlafe ich.
Da wieder die eiskalte Bleifaust auf meiner Brust, würgendes Herzklopfen, wilder Funkenwirbel vor den Augen, beklemmende Atemnot in den Lungenflügeln. Noch einmal Todesangst, noch einmal Digitalis, noch einmal Müdigkeit und so weiter.
Es ist eine rabenschwarze und tobende Oktobernacht. Brüllend und heulend gießt der rasende Nordwind das Wasser eimerweise an die ächzenden Fensterscheiben und haut zwischen die Dachpfannen, dass sie klirrend und klingelnd und klappernd in den Kot klatschen.
Jetzt ist sie schon fünf Monate tot. Oh, bin ich müde, todmüde und krank. Mein Rücken ist wie gebrochen, die Augen brennen, die Füße sind eiskalt, die Schläfen hämmern, und ein dumpfes Druckgefühl lastet um Kehle und Hinterkopf. Ja, sie ist mir treu, treu, treu bis zu meinem Tode. Im grünen Mai kam sie zum ersten Male zu mir. Unter Herzklopfen war ich eingeschlafen. Da schwebte sie herein zu mir, schob ihren Arm unter meinen Hals und küsste mich erst ganz leise, keusch, schüchtern und zaghaft, dann bittender, dringlicher, heißer. Es war ein schaurig süßer, unheimlich wonniger Liebestraum.
Ich erwachte mit bleiernen Gliedern und aschgrauem Gesichte. Und sie kam immer wieder, Nacht für Nacht. Da half kein Abwehren, kein Sprödetun. Sie bleibt mir treu, treu bis zu meinem Tode.
Sie steht an der Kammertür und lächelt.
»Hab mich lieb!«
»Mädchen, du tötest mich!«
»Dann sind wir immer beieinander.«
Und sie lächelt so süß und winkt so zärtlich. Heute kam sie, morgen ist sie hier und übermorgen wird sie kommen; sie ist mir treu, treu bis zu meinem Tode.
Sie steht an der Kammertür und lächelt.
Und kommst du morgen und übermorgen und immer wieder, dann kann ich dir nicht mehr widerstehen.
Ich gehe dann für immer mit dir.
Nachbemerkung
Auch Löns »Der Vampir« verwendet die schon an Heyses »Die schöne Abigail« erläuterte todorovsche Ambivalenz: Wird der Medizinstudent wirklich von einer Vampirin heimgesucht oder ist es doch sein schlechtes Gewissen, die Vorstellung, aus einer Laune heraus für den Tod des lieben Mädchens verantwortlich zu sein, das ihm unheimlich wird und Wahnvorstellungen verursacht? Es bleibt offen.
Löns verwendet das Vampirmotiv recht ungewöhnlich – es gibt nur wenige Anknüpfpunkte zur literarischen Tradition. Beibehalten wurde die Entstehung: Das Mädchen war einerseits voller Lebenshunger, doch konnte es diesen nicht stillen; nachdem ihr Geliebter – von Löns nur angedeutet, der Student hätte sich verlieben können – sie schnell fallen ließ, verzweifelte sie und beging die unverzeihliche Todsünde: Selbstmord. Der ungestillte Lebenshunger und der schlechte Tod lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Sie sucht ihren Geliebten heim und zehrt langsam dessen Leben auf. Hierin erinnert die Verwendung des Motivs sehr an die Nachzehrersagen. Nachzehrer sind Untote, deren Lebenshunger nicht gestillt ist. Sie liegen im Grab, kauen an ihrem Totenhemd und zehren so vom Leben ihrer Nächsten – Geliebte, Kinder, Eltern –, bis diese ihnen ins Grab folgen. Nachzehrer werden je nach Definition zu den Vampiren oder zu den nahen Verwandten gerechnet – einen Überblick über die jeweiligen Argumente findet man in Schaubs »Blutspuren«. Da Nachzehrersagen ein beinahe spezifisch deutsches Phänomen sind, werden sie bisweilen als deutsche Variante des Vampirglaubens bezeichnet.
Das
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