- Lasst die Toten ruhen
sieht mich an. Ich blicke nicht hin, aber weiß, dass es da ist. Nerventäuschung! Ich habe zu anstrengend gearbeitet in der letzten Zeit.
Das weiße Gesichte tritt mir näher. Jetzt schaut es über meine rechte Schulter in das Buch. Ich drehe den Kopf – natürlich! Nur eine Sinnestäuschung: Eine ferne Gaslampe beleuchtet das Spiegelbild einer Fliedertraube in dem zurückgeklappten Fenster. An meiner Schlafzimmertüre, bleich, strenge, bittend, ohne Mienenbewegung steht wieder das schattenhafte Gesicht. Es kommt langsam näher. Jetzt schwebt es zwischen mir und der Lampe. Ich blicke auf – selbstverständlich, nur der Stundenplan, der dort aufgehängt ist.
Meine Sehnerven sind durch allzu anhaltendes Mikroskopieren überreizt …
Ein halb verwischtes, kreideweißes, starres Gesicht schaut über meine linke Schulter in das Buch. Es ist freilich nur der helle Schimmer des gebleichten Skeletts. Aber mir wird nach und nach der Kopf warm. Wenn ich nicht morgen in das Examen müsste, dann ginge ich sofort zu Bett. Also weiter im Text.
Das weiße Gesicht mit den geisterhaft undeutlichen Zügen taucht aus dem Eichenfußboden auf und schwimmt ohne eine Bewegung näher an mich heran. Es ist bereits dicht neben meinem Kopfe. Ein kurzer Blick belehrt mich, dass es nur ein zu Boden geflattertes Papier ist. Jetzt heißt es, die Gedanken zusammenzupferchen, denn ich werde immer zerstreuter. Wort für Wort durchmustere ich das Buch. Zwei klare, helle, ruhig schimmernde Augen erscheinen unter meinem Präpariertische, bohren sich wie mit Enterhaken in mein Gesicht und reißen meine Blicke von dem Buche fort. Wie albern! Zwei Glasschalen werfen den Mondschein zurück. Ich blättere langsam weiter.
Ich schrecke zusammen. Auf dem Rücken empfand ich ein Gefühl, als ob eine kühle, weiche Fingerspitze mir schnell vom Rücken bis zum Kreuz geglitten wäre. Ich fasse nach dem Kreuz – lächerlich! Das Durchsteckknöpfchen hat sich vom Kragen gelöst. Ein weicher, vorsichtiger, kühler Druck eines vollen Armes umschlingt meinen Hals. Nervös sehe ich mich um: nichts! Ich fasse nach meinem Nacken: Das Schlipsband ist in die Höhe gerutscht und hat mich gekitzelt.
Jetzt bin ich am Schlusskapitel. Aufatmend klappe ich das Buch zu. Doch nun will ich etwas Antipyrin einnehmen, sonst erscheint mir am Ende meine eigene Nase noch als Gespenst. Es ist auch Zeit zum Schlafengehen, die Lampe gibt mir das deutlich durch ihr immer unwilligeres Brennen zu verstehen. Gähnend erhebe ich mich vom Sessel und öffne die Schlafzimmertüre, welche warnend quietscht.
Am Kopfende meines Bettes steht bleich, nebelig, ätherisch der Schatten eines Schattens. Ein weißes, schönes, unerkennbares Gesicht mit verschwimmend zarten Zügen, Lippen blass rosa wie Anemonenblüte. Zarte, perlblaue Augen, wie aus Schlehenduft geformt, mit schwachem, ruhigem, leise flimmerndem Blick, wie ein weit entferntes Licht in der Nebelnacht.
Verschwinde, Nervenspuk, ich danke für deine Gesellschaft!
Ärgerlich gehe ich in mein Arbeitszimmer zurück und zünde mir eine neue Zigarette an. Ich will die Nerven erst etwas einschläfern, ehe ich mich hinlege. Die Lampe zappelt in den letzten Zügen; ich gebe ihr den Gnadenstoß. Der Docht glüht noch einige Minuten nach, rot funkelnd wie ein Uhu-Auge. Tagheller Mondschein stürzt hastig in das Zimmer. Leise winkend, bittend, lockend steht in dem Rahmen der Schlafzimmertür die neblige, dunstige, unklare Erscheinung. Ich bin dieses Nervengaukelspiel herzlich leid; doch was ist da zu machen? Schlafen kann ich doch noch nicht.
Langsam schwebt die zarte Luftgestalt zu mir hin. Das bleiche Schattengesicht weht leise auf mich zu. Blassrote Lippen flattern den meinigen entgegen. Schwach leuchtende Blicke schmelzen in meine Augen. Nebelhafte Arme schwimmen leise nach meinem Halse. Ein durchscheinender Leib wogt mir verlangend entgegen. Die Busenschatten schwellen und schwinden wie Rauchwölkchen.
Bin ich denn ganz verrückt? Setz dich ins Sofa, Nervengespenst, und lass uns vernünftig reden. »Dürfte ich mich ergebenst nach dem Zwecke Ihres Hierseins erkundigen?«
Sie schweigt; stummer, schmerzlicher Vorwurf zittert auf ihren Lippen.
»Was willst du von mir?«
»Hab mich lieb!«
»So schmeichelhaft mir Ihr zartes Entgegenkommen auch ist, meine Gnädigste, so bin ich heute nicht mehr dazu aufgelegt. Guten Morgen!«
Sie rührt sich nicht. Sie zeigt keine Bewegung und scheint für Ironie völlig unempfänglich zu sein.
»Und
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