- Lasst die Toten ruhen
geisterhafte Auftreten der Vampirin, die bald Gespenst, bald Sinnestäuschung ist, verleiht dem ungreifbaren Wirken des Nachzehrers meines Erachtens eine passende Form.
Vorbemerkung
Die folgende Geschichte wurde 1860 unter dem Titel »The Mysterious Stranger« in der britischen Zeitschrift »Odds and Ends« veröffentlicht. Dies ist das älteste Zeugnis, das von ihr erhalten geblieben ist. Da es die Übersetzung einer deutschen Geschichte ist, muss das Original folglich älter sein. Bis auf den heutigen Tag ist es ebenso wenig aufgetaucht, wie der Autor bekannt geworden ist. Im englischen Sprachraum ist die Geschichte relativ bekannt, man findet sie etwa in der 1989 von Alan Ryan herausgegebenen Sammlung »The Penguin Book of Vampire Stories«. Kim Newman machte aus dem Vampir in seiner postmodernen Dracula-Fortsetzung »Anno Dracula« aus dem Jahr 1992 ein Mitglied der Carpathian Guard.
Nichtsdestoweniger ist es eine Vampirgeschichte aus dem deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts. Da sie zudem einigen Nachhall in Bram Stokers »Dracula« hinterließ, ist sie es durchaus wert, in die Sammlung aufgenommen zu werden.
Ich habe sie also übersetzt. Ich habe nicht versucht, den Anschein zu erwecken, sie sei restauriert worden – damit werden meines Erachtens nur Unsicherheiten gefördert. Ich habe stattdessen versucht, sie einigermaßen neutral zu übersetzen. Das heißt, ich habe Worte gemieden, die zu sehr nach gegenwärtigem Sprachgebrauch klingen, habe aber auch versucht, einen altertümelnden Klang zu vermeiden. Den Satzbau habe ich so intakt wie möglich gelassen, da sich in ihm noch immer der Ursprung der Geschichte abzeichnet.
Anhang A
— Der geheimnisvolle Fremde
Sterben? Schlafen!
Vielleicht auch träumen? Ja, da liegt’s.
– Hamlet
Boreas, der furchterregende Nordwestwind, der im Frühling und im Herbst die tiefsten Tiefen der wilden Adria aufwühlt und dann so gefährlich für die Seefahrt ist, heulte durch die Wälder und zerwühlte die Zweige der alten, knorrigen Eichen in den Karpaten. Eine Gesellschaft von fünf Reitern, die eine einfache von zwei Maultieren gezogenen Kutsche umringte, bog auf einen Waldpfad, der ein wenig Schutz vor dem Aprilwetter bot und es den Reisenden erlaubte, wieder zu Atem zu kommen. Es war bereits Abend und bitterkalt dazu; von Zeit zu Zeit fielen große Schneeflocken. Ein großer, alter Herr von aristokratischer Erscheinung ritt am Kopf der Truppe. Das war der Ritter von Fahnenberg in Österreich. Er hatte von einem kinderlosen Bruder ein beachtliches Gut in den Karpaten geerbt und wollte dieses nun in Besitz nehmen. Dabei begleiteten ihn seine Tochter Franziska und eine etwa zwanzigjährige Nichte, die mit ihr aufgezogen worden war. Neben dem Herrn von Fahnenberg ritt ein feiner junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren – der Baron Franz von Kronstein; er trug wie sein Vordermann einen breitkrempigen Hut mit herunterhängender Feder, einen ledernen Kragen und große Reitstiefel – kurz, die Reisekleider, die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gebräuchlich waren. Die Gesichtszüge des jungen Mannes wiesen auf eine ebenso offene und freundliche wie geistreiche Person hin, aber sein Ausdruck war eher verträumt und sanft als von jugendlichem Wagemut erfüllt; niemand konnte ihm absprechen, dass er eine jugendliche Schönheit besaß. Als die Kavalkade in den Eichwald bog, ritt der junge Mann neben die Kutsche, um mit den Damen darinnen zu schwatzen. Eine von ihnen – und an die war die Konversation gerichtet – war von bezaubernder Schönheit. Ihr Haar umfloss in natürlichen Locken ihr fein geschnittenes, ovales Gesicht, aus dem ein Paar Augen wie Sterne strahlte, voll von Genius [93] , lebhafter Schwärmerei und einer gewissen Durchtriebenheit. Franziska von Fahnenberg schien aber der Rede ihres Bewunderers ohne Aufmerksamkeit zuzuhören. Er fragte, wie sie sich fühle bei dieser beschwerlichen Reise. Sie antwortete sehr knapp, beinahe verächtlich, und machte eine lange Bemerkung darüber, dass, wenn ihr Vater keine Einwände hätte, sie den Baron schon vor einiger Zeit gebeten hätte, ihren Platz in dem schrecklichen Käfig von einer Kutsche einzunehmen. Denn, wenn man nach seinen Bemerkungen gehe, scheine ihn das Wetter sehr zu belästigen, und sie würde so viel lieber auf einem temperamentvollen Pferd Wind und Wetter trotzen, als hier eingepfercht, den Hügel von diesen langohrigen Tieren hinaufgezogen zu werden und sich selbst zu Tode zu
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