Lasst uns froh und grausig sein
Meinung zu den Karikaturen fragte. Ich studierte die Muster aus rotem Wachs auf seinem Teppichboden. Er folgte meinem Blick.
»Ein Malheur«, winkte er ab und leichte Gereiztheit schlich über sein Gesicht.
Er war klein. Untersetzt. Hatte vorstehende Zähne. Heutzutage würde mit so einem Gebiss niemand mehr erwachsen. Dafür sorgten schon die Kieferorthopäden, was wiederum die Manager lukrativer Investmentfonds freute.
»Wo waren Sie zur Tatzeit, Herr Dr. Bundschuh?«
Er blätterte in seinem Terminkalender.
»Ich bin spazieren gegangen.«
»Alleine?«
»Frische Luft ist gesund.«
»Tragen Sie Ihre privaten Spaziergänge immer in Ihren Terminkalender ein?«
Er schnaubte und griff nach einem Taschentuch.
»Als Mediziner wissen Sie um die Wirkung von Blauem Eisenhut?«, bohrte ich weiter.
»Himmel!« Er lachte gequält. »Eines der stärksten Pflanzengifte. Nicht zu fassen.«
»Haben Sie Enikö Marai umgebracht?«
Er starrte mich fassungslos an, dann wieherte er los.
»Ich?« Er schüttelte sich vor Lachen. »Nein.«
*
»Dramatisch. Und das kurz vor Weihnachten. Die arme Familie!« Neun ging ganz in seinem Pathos auf. »Das muss Ihnen als Italienerin doch noch deutlicher vor Augen stehen als uns … Teutonen.«
»Wie gefällt Ihnen Ihre Karikatur?«
»Na, sehr glücklich bin ich nicht darüber. Aber man nimmt es mit Humor, nicht wahr?«
»Wäre Enikö Marai nicht ein Gewinn für Ihre Zeitung gewesen? Als Karikaturistin?«
Neun streckte die Arme nach vorne. »Bisher wusste ja niemand von ihrem phänomenalen Talent.«
»Es wird doch bald eine Stelle frei?«, erkundigte ich mich. »Wenn Georg Henrich geht?«
Der Deskchef wurde rot. »Haben Sie das von Malaika?«
»Nein. Vom Weihnachtsmann.«
»Leider«, plusterte Neun sich auf, »sind wir in gewissen Fällen gezwungen, uns von Mitarbeitern zu trennen.«
*
Am späten Nachmittag trugen wir im Besprechungszimmer unsere Ergebnisse zusammen. In zwei Stunden wäre mein Flug gegangen. Irgendwie hoffte ich, dass wir den Mörder bis dahin nicht fangen würden. Natürlich war das sowieso unrealistisch, und ich hatte den Flug längst storniert. Der Gedanke beruhigte mich.
»Doris Mey schwört Stein und Bein, dass sie allein die Zutaten für die Cocktails gekauft hat und dass alles noch originalverschlossen war, als sie mit dem Mixen der Drinks loslegte«, berichtete Volkwin.
»Lass gut sein«, sagte Tjark. »Jemand muss sich an Enikös Glas herangeschlichen und das Gift hineingetröpfelt haben.«
Ich beteiligte mich nicht an der Diskussion. Mir fehlte ein schlüssiges Motiv. Wer mordete schon, nur weil er karikiert wurde? Ich dachte an Tante Consuelo und ihre Theorien über blinde Flecke. »Die Welt kennt viele deiner Schwächen, Schätzchen«, pflegte sie zu sagen, »auch ohne dass du dir dessen bewusst wirst. Deine Mitmenschen legen den Finger in Wunden, von denen du nicht einmal wusstest, dass sie dich schmerzen.«
Das mochte stimmen. Vielleicht suchten wir bei den falschen Leuten. Ich blätterte in dem Postkartenbuch. Gab es eine Karikatur, deren Witz auf den ersten Blick nicht verständlich war?
Meine Kollegen beendeten ihre Debatte.
»Machen wir morgen weiter«, erklärte Tjark. »Meine Güte, die Polarnacht macht mich ganz depressiv.«
Ich folgte Tjark in unser Büro. »Hast du Lust auf einen Glühwein?«, fragte ich ihn.
Er zuckte die Schultern, als käme es ihm nicht so genau darauf an, allzu bald zu Hause bei Frau und Kind einzutrudeln.
*
Wir nippten an unserem Punsch. Der Zimtgeschmack stieß mir übel auf.
»Hast du das auch gehört?«, fragte ich Tjark. »Zimt soll gesundheitsschädlich sein.«
»Egal«, knurrte er. »Wenn ich mehr als sechs Zimtsterne aus dem Backofen meiner Schwiegermutter vertilge, verrecke ich an Herzverfettung.«
Ich trank meinen Becher aus. »Die Buchhandlung hat ihren Stand wiedereröffnet.«
»Da rollt der Rubel.«
»Wir haben keinen einzigen gut begründeten Verdacht. Gegen niemanden.«
Tjark brachte unsere Becher zurück und kassierte den Pfand. Wir schlenderten zur Bücherbude. Ein Nikolaus trat uns in den Weg und bot Safrantörtchen an.
»Für mich nicht«, wehrte ich ab, verstaute die Hände in den Manteltaschen und sah Tjark beim Reinbeißen zu.
»Hm«, mümmelte er. »Klasse. Möchtest du?« Er hielt mir das angebissene Törtchen hin.
»Kein Bedarf.«
Es regnete ein Gemisch aus Wasser und Schnee vom Himmel. Morgen abend würde ich die Telefonschnur aus der Wand ziehen
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