Lasst uns froh und grausig sein
die sie eine knappe Stunde zuvor Walt gefolgt war. Der Gang war stockfinster. Das grüne Exit-Schild leuchtete nicht mehr. »Geben Sie mir Deckung«, wisperte sie Clemenza zu. Der Lichtkegel ihrer Stirnlampe schnitt ein Stück aus dem Dunkel heraus.
»Da ist keiner!« Clemenza fegte durch den Raum. Sie rüttelte an einem Regal und stieß mit dem Stiefel gegen einen Stapel Bierkästen. »Ganz schön geröllheimermäßig hier.«
»Umbau!«, erläuterte Katinka, als müsste sie Nora verteidigen.
»Ich checke jetzt die Küche!«, sagte Clemenza.
»Ich gehe in den Hinterhof!«
Katinka trat hinaus in den eisigen Abend. Brutal fiel der Wind sie an. Die Regentropfen schmerzten im Gesicht wie Glassplitter. Sie biss sich auf die Lippen, als sie zur Scheune hinüberging. Der Schnee lag immer noch hoch, war vollkommen vereist. Bei jedem Schritt knirschte es, als zerträte sie Glas.
Die Scheune war mit zwei schweren Vorhängeschlössern gesichert. Die Fußspuren bei den Baracken gegenüber sahen auf den ersten Blick verwirrend aus. Katinka leuchtete durch die Türhöhle, ohne auf den Toten zu achten. An den Anblick von Leichen gewöhnte man sich nicht. Vielleicht stumpfte man ab, indem man seine Gedanken weg von dem zerstörten Leben auf etwas anderes lenkte. Nur nicht zu lange am Elend aufhalten. Sie betrat das niedrige, verwahrloste Gebäude. Es gab keinen Korridor: Jeder Raum war mit dem nächsten direkt verbunden. Aus den Wänden ragten rostige Wasserleitungen. Ein alter Kühlschrank und ausrangierte Bierfässer standen herum, alles mit einer schmierigen Staubschicht überzogen.
An einer Wand lehnte die Tür eines Wagens; ihr roter Lack war völlig zerkratzt. Katinkas Schritte hallten in der Leere. »Hallo?«, rief sie leise in den Raum.
Ein Schatten glitt vor ihr aus der Finsternis. Lautlos schien er mit dem Dunkel zu verschmelzen.
»Stehenbleiben!« Katinka hielt die Beretta in der Faust. »Ich bin bewaffnet. Bleiben Sie stehen!«
Der Mann, der unsicher blinzelte, als sie die Lampe auf sein Gesicht richtete, murrte ungehalten: »Was soll’n das? Wird man jetzt abgeknallt, wenn man am Abend auf ein Bier will?« Sein Bart stand zipfelig in alle Richtungen. Winzige Eisklümpchen hingen darin fest.
»Wer sind Sie?«
»Äh … Harun Findeisen. Noras Nachbar.«
Katinka ließ die Waffe sinken. Er war nicht der Hänfling. Er war groß, schmal gebaut, aber durchaus sportlich. Wortlos winkte sie ihm, ihr zu folgen. Sie traten aus der Baracke in den Hinterhof. Katinka richtete den Strahl ihrer Lampe auf die Leiche.
»Kennen Sie den Mann?«
Harun beugte sich hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, sah er aus, als müsse er sich übergeben. »Wenn mich nicht alles täuscht, wohnt der Vogel irgendwo hier … weiter die Straße rauf.«
17 Uhr 55
Clemenza Conzi hatte nicht das leiseste Interesse, an ihrem ersten freien Abend beruflich zu werden. Vor allem, weil dieser 23.12. genaugenommen ihr einziger freier Abend sein würde, bevor sie am 29. wieder arbeiten ging. Denn die Verwandtschaft aus Neapel verstand keinen Spaß, wenn es um Weihnachtstraditionen ging. Sie würden sie von morgens bis abends in die Mangel nehmen, sie zwingen zu essen, zu trinken, zu reden, zu erzählen, zu schenken und sich beschenken zu lassen. Nicht auszudenken, wie all die Sightseeingtouren enden würden, die sie zu organisieren hatte. Die wenigsten ihrer Tanten und Cousins hatten sie je in Deutschland besucht. Üblicherweise fuhr sie nach Italien, um sich dort von Tisch zu Tisch reichen zu lassen. Urlaube dieser Art hingen ihr ziemlich zum Halse raus.
»Wo gibt’s noch eine Versteckmöglichkeit?«, fragte sie. Sie war im Keller gewesen, hatte ein zweites Mal die Toiletten durchsucht und die Kühl- und Vorratsräume in Augenschein genommen.
Nora Molitor stand in ihrer Küche und stellte eine gigantische Schüssel mit gefrorenem Hackfleisch in die Mikrowelle. »Ich habe keine Ahnung.«
»Sie wohnen im ersten Stock?«
»Genau.«
»Was dagegen, wenn ich mal nachsehe?«
Clemenza entging nicht, dass Noras Gesichtsfarbe ein paar Grade röter wurde.
»Gehen Sie nur. Aber oben ist abgeschlossen. Außerdem ist der erste Stock nur über die Außentreppe erreichbar. Dazu müssen Sie zum Haupteingang raus, dann links rum, durch die schmale Holztür.«
»Kein Zugang vom Hinterhof?«
»Nein.«
18 Uhr
Katinka schickte Harun in die Wirtschaft. »Seien Sie so nett und bestellen Sie mir gleich ein Bierchen mit!«, bat sie.
Irgendwo musste
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