Lasst uns froh und grausig sein
die Kommissarin ihm das Wort ab.
Katinka stapfte an ihm vorbei und kniete sich neben die Leiche. Sie fegte die Schneeschicht weg, die sich über den Ledermantel gelegt hatte. Das Gesicht des Toten war vollkommen farblos. Sie schloss dem Mann die Augen. Den Blick aus toten Pupillen konnte sie nicht ertragen.
»Seltsam. Kommt daher und stirbt!«, sagte Clemenza. »Kennen Sie ihn? Nun sagen Sie schon, Frau Molitor.«
Nora sah aus, als müsse sie sich jede Minute übergeben. Sie nickte schwach. »Habe ich doch Frau Palfy schon gesagt.«
»Also?« Clemenza fackelte nicht lange. »Raus mit der Sprache.«
»Der Mann ist ein entfernter Nachbar. Bekannt im Viertel als ewiger Querulant. Nörgelt über alles und jeden. Er wollte den Umbau des Boxclubs verhindern, weil er sich wegen des Lärms sorgte. Könnte ja sein, dass hier im Sommer mal ein Biergarten entsteht.« Sie hatte den Blick von der Leiche abgewandt und sprach zu niemand Bestimmtem. »Dabei wohnt er ein gutes Stück den Kaulberg hinauf. Da macht jedes vorbeifahrende Auto mehr Krach als irgendein Restaurantgast.«
»Name?«
»Engstler. Arndt Engstler.«
»Sagt mir doch was!« Clemenza runzelte die Stirn. »War der mal Strafrichter?«
»War er. Einer, der immer genau wusste, was richtig und was falsch ist!« Nora spuckte in den Schnee.
Hoppla, da hat sich aber ganz schön viel Aggression angestaut, dachte Katinka. Sie begann, die Situation komisch zu finden. Zusammengewürfelt mit einem knappen Dutzend völlig Fremder, wenn sie Dante ausnahm, hatte sie mindestens 12 öde Stunden in einer Spelunke vor sich, von deren Existenz sie bis vor wenigen Stunden nichts gewusst hatte.
»Hatten Sie Ärger mit Engstler?«, fragte sie Nora.
»Kann man so nicht sagen. Nur – er schnüffelte einfach überall herum. Stänkerte, drohte, machte Stress. Keiner mochte ihn im Viertel. Schauen Sie sich Harun an. Meinen Nachbarn. Er vertreibt Wasserpfeifen. Verkauft sie im Internet. Das findet – fand – Engstler abartig. Nachgerade pervers. Dachte wohl, da hängt ein Puff dran. Spionierte hier ständig rum.«
»Bei Ihnen? Im Hof?« Dante hüpfte von einem Bein auf das andere. Er ist irgendwie hyperaktiv, dachte Katinka. Seine Mutter muss mit ihm als Kleinkind eine Menge Stress gehabt haben.
Irgendwo kauzte ein Hund, beruhigte sich aber sofort.
»Wo haben Sie Engstler heute Abend gesehen?«, wandte Clemenza sich an Katinka.
»Er kam aus den Nebengebäuden. Zuvor spazierte er fröhlich durch den Hintereingang in den Hof.«
»Aber Sie haben nicht bemerkt, ob jemand ihn niedergeschlagen hat oder so?«
»Hoffnungslos!«, antwortete Katinka. »Er hat keine sichtbaren Verletzungen.« Sie hob die Schulter des Toten ein Stück an. »Kein Blut, kein nichts. Kein Messer, kein Schuss!«
Clemenza ging zur Scheunenwand hinüber, an der ein Besen lehnte, und fegte den Schnee zwischen der Leiche und dem Eingang zu den Baracken weg. »Sehen Sie mal, allerhand Gerümpel.«
»Ich würde jetzt gern wieder reingehen!«, ließ sich Nora vernehmen.
»Das sollte keine Kritik sein!«, beruhigte Clemenza, während sie unentwegt kehrte. »Ob Sie hier aufräumen oder nicht, hat nichts mit unserem toten Freund zu tun.« Sie hielt inne und bückte sich. »Könnte sein, dass er über diesen alten Laubrechen gefallen ist. Der Stecken scheint ziemlich frisch durchgebrochen. Wie hoch lag vorhin der Schnee?«
Katinka sah Clemenza ratlos an. Deren rote Skijacke leuchtete unnatürlich in dem silbernen Licht, das über dem Hof schwamm. »Ein bisschen höher als jetzt. Der Regen war zwar kurz, aber heftig. Kann einiges weggewaschen haben.«
»Klar, er kann gestürzt sein und sich das Genick gebrochen haben. Es gibt auch Leute, die haben plötzlich einen Schlaganfall, während sie ihre Morgenzeitung am Kiosk holen«, meldete sich Dante zu Wort.
»Warten wir die Kriminaltechnik ab«, bestätigte Clemenza. »Ich habe die Bamberger Kollegen schon informiert, aber im Augenblick kommt ja niemand vor die Tür. Haben Sie irgendwo eine Plane oder so, damit wir ihn zudecken können?«
Ein Handy klingelte. Katinka wandte ihren Blick von der Leiche ab und sah nacheinander Dante, Clemenza und Nora an.
»Kann mal einer drangehen?«, schnauzte die Kommissarin.
»Ähm, ich glaube – der, für den der Anruf kommt, kann nicht mehr abheben!« Dante zeigte auf die Leiche.
Kein Zweifel: In Arndt Engstlers Ledermantel klingelte ein Handy.
»Scheiße!« Clemenza fummelte einen Latexhandschuh aus ihrer Jacke. Doch bis
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