Last days on Earth: Thriller (German Edition)
siehst du die Welt notgedrungen mit etwas anderen Augen.« Sie berührte sacht seine Schulter. »Es gefällt mir nicht, wie ich die Welt nun sehe, aber ich weiß, dass ich nicht zurückkann.« Ihre Berührung wurde fester. »Aber eins kann ich dir sagen: Wenn ich Kit Marley jemals in die Finger bekomme, ist er ein ganzes Stück toter, als ihm lieb ist!«
Raoul konnte trotz seines schmerzenden Kopfes nicht anders, er lachte. Er streckte den Arm aus und zog sie an sich. Karla legte den Kopf in seine Armbeuge. »Kannst du so liegen?«, fragte sie gähnend. »Ich werde jetzt schlafen. Bin hundemüde, und morgen früh ist doch diese Wohnungsbesichtigung …« Sie schlief ein, während sie noch redete.
Raoul rückte sich so zurecht, dass sein Arm nicht wieder taub wurde, und schloss die Augen. Er konnte ohnehin nicht schlafen, also würde er mit der Arbeit beginnen, sich den neuen Gedächtnisinhalt einzuverleiben.
12. 19. 19. 10. 19.
Raoul hatte natürlich recht gehabt: Die Wohnung, zu deren Besichtigung sie an diesem Morgen aufgebrochen war, hatte sich als ein völlig überteuertes Rattenloch entpuppt. Es gestaltete sich erstaunlich schwierig, eine bezahlbare, einigermaßen zentral gelegene Unterkunft zu finden.
Sie schloss die Wohnungstür auf und rief: »Bin wieder da«, während sie die Schlüssel auf die Ablage warf und ihren Rucksack unter die Garderobe stellte. Sie ging in die Küche, befüllte die Kaffeemaschine und durchsuchte den Kühlschrank nach Eiern, Butter und Käse.
»Guten Morgen«, sagte eine verschlafene Stimme. Raoul lehnte gähnend und mit zerrauften Haaren am Türrahmen. Die beiden letzten Nächte hatten deutliche Spuren hinterlassen, er wirkte wie ein angezählter Boxer, der auf den erlösenden Gong wartet. »Du siehst aus, als könntest du einen starken Kaffee vertragen«, sagte Karla. »Was macht dein Kopf?«
Er hob die Hand und betastete vorsichtig seine Schläfe. »Uhmmm«, machte er. »Es könnte besser sein.« Er löste sich vom Türpfosten und machte eine unbestimmte Geste in Richtung Bad. »Ich halte mich mal eben unter kaltes Wasser. Frühstück? Gute Idee.« Er schlurfte davon.
Karla briet Spiegeleier und versuchte, sie nicht anbrennen zu lassen. Der Kaffee gurgelte mit einem stöhnenden Geräusch in die Kanne und verströmte sein herbes Aroma, das sich mit dem Geruch der frischen Brötchen mischte. Karla ertappte sich dabei, dass sie leise vor sich hin pfiff.
Als Raoul mit nassen Haaren und klareren Augen aus dem Badezimmer kam, saß sie bei ihrer ersten Tasse Kaffee und las die Zeitung. »Schon wieder ein Hochhausbrand«, sagte sie.
Raoul griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich ein. Karla sah aus dem Augenwinkel, dass seine Hände zitterten. »Wie war die Wohnung?«
»Schrecklich.« Karla schnitt ein Brötchen auf und legte es auf seinen Teller. Er sah sie verwundert an. Karla hob die Brauen. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich fange nicht an, dich zu bemuttern. Hab nur keine Lust, die Krankenschwester zu spielen, wenn du dir die Hand aufschneidest.« Sie musterte den Schnitt in seiner Handfläche.
»Das war eine beruflich notwendige Verletzung«, erklärte er würdevoll. »Ich habe gestern noch den Aufenthaltsort unseres Mörderkommandos herauszufinden versucht.«
Karla hörte sich an, was er zu berichten hatte. Sie lachte, als er von der falsch geeichten Pistolenkugel berichtete und dabei ein Gesicht machte wie ein Schuljunge, der seine Hausaufgaben vergessen hat.
»Du meinst, du hättest eher Erfolg gehabt, wenn du nach dem Schützen gesucht hättest und nicht nach seinem Auftraggeber?«
Raoul bestätigte das mit grimmiger Miene und biss in sein zweites Brötchen. »Ich habe mir jetzt einen guten Teil der fehlenden Erinnerungen angeeignet«, sagte er. »Ist euch aufgefallen, dass ein bestimmtes Motiv immer wieder auftaucht, und zwar völlig zusammenhanglos?«
»Welches Motiv wäre das?«
»Ein Datum und die damit zusammenhängende Überlieferung. Der 21. Dezember.«
»Das Ende der Langen Zählung«, sagte Karla. »Maya-Kalender. Eine der bevorzugten Weltuntergangstheorien in diesem Jahr.«
»So ist es. Du bist doch die Fachfrau für morphisches Dingsda. Was sagst du zu der Feldstärke dieser Theorie?«
Karla dachte nach. Dann nickte sie. »Eine jahrtausendealte Überlieferung, ein Glaube, ein mathematisches oder astronomisches System, eine Kultur, deren Nachfahren immer noch Bezug dazu haben, und eine außerordentlich große Resonanz bei Menschen,
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