Last days on Earth: Thriller (German Edition)
Rechenschaft ziehen.«
Karla lachte auf. »Das kann ich nicht. Ihr seid so unterschiedlich, Raoul. Du bist nicht Brad.«
Raouls Gesichtsausdruck war starr wie der einer Maske. »Das weiß ich«, sagte er. »Aber er benutzt meinen Körper und damit bin ich verantwortlich. So lauten die Regeln.«
»Mag sein, aber es sind nicht meine Regeln«, fauchte Karla. Sie riss die Tür auf und schmetterte sie hinter sich zu. Warum war sie so wütend auf Raoul? Er war, was er war. Sie begriff diese seltsame Konstruktion nicht. Das Verhältnis, das Raoul zu seinem Symbionten hatte, erschien ihr krank und falsch. War das überhaupt eine Symbiose? Oder hatte Raoul sich freiwillig einem bösartigen Parasiten ausgeliefert, der ihn nun aussaugte und für seine Zwecke benutzte, bis Raoul aufgab und starb? Um als Daimon wiedergeboren zu werden?
Karla blieb auf der Treppe stehen und legte den Kopf in den Nacken. Wut war das eine, mangelnde Information das andere. Kurz entschlossen griff sie zu ihrem Handy und wählte.
12. 19. 19. 10. 19.
Sie hockte auf einem kleinen Kissen und balancierte eine Tasse mit bitterem grünem Tee auf dem Knie.
Tora-san saß ihr gegenüber und rauchte. Sie trug einen schwarzen Baumwollkimono, der bequem und elegant zugleich aussah, und ihre Füße steckten in weißen Zehensocken. Karla hatte Raouls Lehrerin bisher nur als Stimme am Telefon erlebt und war überrascht, wie zierlich und zart die Großmeisterin wirkte. Aber alle Zartheit hatte ein Ende, wenn man in Tora-sans Augen sah. Aus ihrem Blick sprachen ein klarer, kühler Verstand und ein eisenharter Wille.
»Was kann ich für Sie tun?«, eröffnete Tora-san schließlich das Gespräch.
»Tora-san, Sie wissen, dass ich vom Dienst suspendiert und vom Weißen Zweig ausgeschlossen wurde.«
Die Großmeisterin nickte abwartend und sog an ihrer Zigarette.
»Ich suche nach einem alternativen Lebensplan und möchte mich deshalb auch über den Schwarzen Zweig informieren.« Das war nur halb gelogen. Natürlich hatte sie sich in der Dunkelheit der Nacht schon gefragt, ob es wirklich so schrecklich wäre, einer anderen magischen Schule anzugehören.
Die Großmeisterin stützte das Kinn in die Hand und musterte Karla. »Ich kenne Ihre Akte, Ihren Lebenslauf, Ihren familiären Hintergrund, mein Kind. Sie wollen sich nicht wirklich dem Schwarzen Zweig anschließen. Was also bezwecken Sie mit Ihrer Frage?«
Karla zwang sich, den prüfenden Blick so offen wie möglich zu erwidern. »Ich weiß, dass ich diesen Sprung höchstwahrscheinlich nicht schaffe«, sagte sie. »Aber ich bin verzweifelt und ratlos, Tora-san.«
Die alte Japanerin überraschte sie mit einem Lächeln. »Sie sind stark, Frau van Zomeren. Der Schwarze Zweig benötigt Menschen wie Sie, die nicht aus Schwäche, sondern voller Zorn und Skepsis zu uns stoßen.« Sie legte die Zigarette behutsam in einer Schale ab und hielt Karla die Hände hin. Karla nahm sie ohne Zögern. Der kräftige Griff überraschte Karla nicht.
»Ich möchte, dass Sie sich entspannen«, befahl die Großmeisterin. »Jede Anwärterin muss sich einmal einer Sondierung unterwerfen. Diese Prozedur kennen Sie bestimmt von Ihrer Anstellung bei der MID.«
Karla nickte ergeben. Sie fragte sich kurz, was Tora-san in ihrem Bewusstsein finden würde, dann dachte sie nichts mehr, sondern schwebte in grauer Stille.
Als die Welt wieder Kontur erlangte, lehnte sie an der Wand und hielt eine Tasse Tee in der Hand. Sie blinzelte und ließ die Realität erneut an Ort und Stelle rutschen.
Tora-san saß ihr wie zuvor gegenüber, die brennende Zigarette in der Hand. Sie betrachtete Karla mit nachdenklicher Miene.
»Frau van Zomeren«, sagte sie, als sie Karlas sich klärenden Blick erkannte, »wir müssen miteinander reden. Sie haben mich belogen.«
Karla nippte an ihrem Tee. »Inwiefern?«, fragte sie kühl.
»Ihr Wunsch, sich uns anzuschließen, war ein Vorwand.«
Es war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Karla hob die Schultern. »Ich dachte, es wäre eine Möglichkeit.«
»Ihr Bewusstsein ist völlig anderer Meinung.« Die Großmeisterin lächelte schwach. »Sie könnten sich sogar eher vorstellen, auf die Nachtseite zu wechseln. Ich muss zugeben, dass ich das bedauere.«
Karla nickte. »Ich auch«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung.
»Nun, das ist doch ein Anfang.« Tora-san streifte Asche von ihrer Zigarette ab. »Wenn Sie möchten, können wir in einem Jahr noch einmal darüber reden. Falls diese Welt in einem Jahr
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