Last days on Earth: Thriller (German Edition)
Brennen. Er nahm das Papier mit der Sigille und hielt es an die Kerzenflamme, und während das Papier verbrannte, drehte er es zwischen den Fingern und flüsterte auf Arabisch einen Bannspruch, der störende Einflüsse fernhalten sollte. Das letzte brennende Fetzchen warf er in die Silberschale, in der das blutige Skalpell lag, und wischte sich die Asche von den Fingern.
Jetzt brauchte er eine Pause. Raoul stand auf und ging zum Kühlschrank.
Eine Weile stand er an die Spüle gelehnt da und nippte an seinem Wein. Die gerade verbrannte Sigille malte feurige Muster auf seine Netzhaut. Er schob das Bild in einen Winkel seines Bewusstseins, aus dem er es jederzeit hervorholen konnte, und vergaß die Sigille erneut. Diesen Vorgang würde er möglicherweise noch ein weiteres Mal wiederholen müssen – es war sein Fluch, dass er über ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis verfügte. Tora hatte sich immer darüber amüsiert. Sie konnte Sigillen produzieren und im selben Augenblick schon ganz und gar aus ihrem Gedächtnis verbannen, während Raoul sie immer noch Stück für Stück zur Tür hinausprügeln musste.
Er war so müde, dass er sich an den Schreibtisch zurückzwingen musste. Er blieb hinter dem Stuhl stehen und blickte auf das vorbereitete Pentagramm. Hatte er etwas vergessen? Sein Blut, die Kugel, die verbrannte Sigille – wieder musste er sie ins Vergessen schieben –, die Runen. Er griff nach dem destillierten Wasser und tropfte es sorgsam rund um den Kreis aus Vogelsand.
Alles war bereit. Raoul leerte seinen Geist von jeder Absicht. Dort war das Pentagramm. Zwischen ihnen bestand ein Band aus Blut. Er wollte nichts wissen, nichts erfahren, nichts erzwingen. Er senkte seine Lider, breitete die Hände über dem Pentagramm aus und ließ die Sigille entstehen. Flammend hell senkte sie sich auf den Aufbau, durchdrang die Gegenstände, verschmolz mit dem Blut, dem Wein und dem Wasser, blitzte noch einmal grell auf und verglühte.
Raoul stieß den unwillkürlich angehaltenen Atem aus und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Er zog einen Stadtplan aus der Schublade und pflückte die Kugel aus dem Pentagramm, um sie sie in die Mitte des ausgebreiteten Plans zu legen. »Jetzt zeig es mir«, murmelte er. Die Kugel begann wild zu kreiseln, wie eine Kompassnadel, unter die man einen Magneten hält, und tanzte schlingernd auf dem Plan herum, bis sie endlich auf einem Punkt zur Ruhe kam.
Raoul pflückte sie ab und sah sich den Ort an. Die Patrone hatte einen kleinen Schmierfleck aus Ruß darauf hinterlassen, und dieser Fleck bezeichnete erstaunlich präzise – sein eigenes Haus.
Raoul fluchte und begann zu lachen. Die ganze Arbeit für die Katz – er hatte nichts weiter geschafft, als die Kugel auf sich zu prägen. Das konnte geschehen, wenn man die Sigille unsauber konstruierte, und wahrscheinlich hatte er genau diesen Teil des Zaubers verbockt. Er hätte nicht nach dem Auftraggeber des Killers suchen sollen, sondern nach dem Wurdelak selbst, dann wäre das Ergebnis wahrscheinlich zufriedenstellender ausgefallen. Aber um das Ritual erneut durchzuführen, musste er die Kugel zuvor von ihrer Prägung reinigen.
Raoul warf das Projektil wieder zu den anderen Sachen, wo es weiter vor sich hin kreiselte. Morgen. Er schleppte sich ins Schlafzimmer und ließ seine Kleider liegen, wo er aus ihnen herausgestiegen war, zog die Decke über sich und schlief schon tief und fest, als sein Kopf das Kissen berührte.
Raoul erwachte aus unruhigen Träumen, weil jemand sich unter seine Bettdecke schob. Raoul lag ein paar Atemzüge lang starr da und fragte sich, wo und wer er war und wieso ein offensichtlich weibliches Wesen sich so unvermutet vertraulich an seine Seite schmiegte. Dann legte er mit aufdämmernder Erkenntnis seine Hand behutsam auf den Kopf des unerwarteten Gastes und fragte leise: »Karla?«
Er spürte das Nicken und hörte, dass sie laut und stoßweise atmete. Seine Hand glitt an ihrer Wange entlang und erspürte Feuchtigkeit. Er fasste ein wenig beherzter zu, murmelte tröstende Worte, unsicher, wie er sich verhalten sollte und was sie von ihm erwartete. Aber allem Anschein nach tat er das Richtige, denn sie rutschte noch ein wenig näher, barg ihr Gesicht an seiner Brust und schniefte leise. Raoul brummte, wie er hoffte, beruhigend und legte behutsam seine Arme um sie. Karla erwiderte die Umarmung, und so lagen sie da, bis sie ruhig, seine Brust feucht und sein rechter Arm vollkommen eingeschlafen
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