Last days on Earth
sondierte
seine Lebenskraft. Sie glomm so schwach wie eine sterbende Kerzenflamme. Karla
schloss die Augen und zwang ihre rasenden Gedanken zur Ruhe. Es war zu spät, um
noch einen Notarzt zu rufen. Raouls Leben drohte unter ihren Händen zu
erlöschen. Wäre Raoul ein Vampir, dann wäre jetzt alles ganz einfach. Selbst in
seinem bewusstlosen Zustand hätte sie ihm Essentia geben können â wenn auch
nicht ihr Blut. Aber das war vielleicht auch nicht nötig? Die Essentia war es,
die den Lebensfunken erhielt.
Sie sah auf ihn hinab. Der Verband um seine Schulter zeigte rote
Flecken. Raouls Gesicht war eingefallen wie das eines Sterbenden. Karla stieÃ
den angehaltenen Atem aus und beugte sich vor. Sie legte ihre Hände auf seinen
Solarplexus und seine Stirn, schloss die Augen und lieà die Essentia durch ihre
Hände in seinen Körper flieÃen.
Sie versank in einen Dämmerzustand, in dem sie nicht mehr
wusste, ob sie wachte oder schlief und träumte. Das stete Rauschen ihres
Blutes, das leise Wispern, mit dem der Strom der Lebenskraft durch ihre Nerven
summte, flüsterten durch ihr Bewusststein wie Stimmen, die in einer fremden
Sprache redeten.
Der Körper, auf dem ihre Hände lagen, fühlte sich kalt und leblos
an. Sie konnte weder Atembewegungen noch Pulsschlag in ihm spüren. War er unter
ihren Händen gestorben, ohne dass sie es bemerkt hatte?
Tonnenschwere Gewichte schienen an ihren Lidern zu hängen. Sie hätte
sich so gerne einfach nur neben ihn ins Bett gelegt, die Decke über ihren Kopf
gezogen und geschlafen.
Raoul lag still da. Reglos wie ein Toter. Sie beugte sich vor,
lauschte an seinen Lippen. Da war ein Atemgeräusch, leise, wie Wind, der durch
Laub säuselt. Und an seiner Kehle pochte der Puls wie das Ticken einer Uhr.
Raouls Gesicht war entspannt, blass, aber nicht mehr totenbleich.
Karla atmete erleichtert auf. Was auch immer diese unorthodoxe
Weitergabe von Essentia bewirkt haben mochte â es hatte ihn allem Anschein nach
nicht umgebracht.
Sie lieà ihre Hand auf seinem Arm liegen und drosselte den Strom der
Lebenskraft, die von ihr zu ihm floss, zu einem stetigen Rinnsal. Noch war sein
Zustand alles andere als stabil, aber Raoul lebte und würde es wahrscheinlich
auch morgen noch tun.
Â
12. 19. 19. 10. 18.
Karla erwachte mit einem Ruck. Helles Licht schien ins
Zimmer, die Sonne war wohl schon aufgegangen. Einen Moment lang wusste sie
nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein. Die Männer. Der Schuss. Raoul.
Und Brad ⦠Brad!
Pourudhâxshtay, flüsterte eine Geisterstimme.
Karla erhob sich auf die Ellbogen. Das Bett neben ihr war leer, nur
der Abdruck eines Körpers und ein paar verschmierte rötliche Flecken auf dem
Laken zeigten, dass Raoul noch vor Kurzem hier gelegen hatte. »Raoul?«, rief
Karla. »Alles in Ordnung?«
Im Badezimmer schepperte etwas zu Boden, eine Stimme fluchte
gedämpft.
Sie stand auf und streckte sich. Dann prüfte sie wie jeden Morgen
ihren Blutdruck. Laut ihrem Kalender müsste sie schon wieder die steigende
Notwendigkeit spüren, sich einstellen zu lassen, aber sie fühlte sich gut.
Zerschlagen, durch die Mangel gedreht, aber gut.
»Kann ich mir die Zähne putzen?«, rief sie durch die Badezimmertür.
Sie hörte ein Knurren, das sie als Einladung interpretierte.
Raoul lehnte am Waschbecken und inspizierte ihren Verband. Sie sah,
dass er es strikt vermied, seinen Blick zum Spiegel schweifen zu lassen, auch
als sie hereinkam. Er drehte sich mit einer vorsichtigen Bewegung um und
streckte die Hand aus. »Du hast irgendwas mit mir gemacht«, sagte er. »Ich
müsste mich viel schlechter fühlen.«
Karla sah mit Erleichterung, dass er nicht mehr ganz so eingefallen
aussah wie noch gestern Nacht. »Wie geht es dir?«
Er berührte kurz ihre Wange. »Danke. Sehr gut, wenn man die Umstände
bedenkt.« Er zog die Brauen zusammen. »Ich erinnere mich nicht an alles. Wie
hast du es geschafft, mich in die Wohnung zu schleppen? Und wer hat die Wunde
versorgt?«
Karla lehnte sich an den Türrahmen. Pourudhâxshtay. Verdammter
Daimon. »Brad«, sagte sie knapp. »Er fand es toll.«
Raoul stand einen Moment lang wie erstarrt, dann lachte er kurz auf
und drehte sich wieder zum Spiegel um. Karla sah über seine Schulter. Im
Spiegelglas tanzten und höhnten die Fratzen, bleckten ihre scharfen
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