Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
Zeitangaben anbieten.» Hüttenberger widersprach nicht.
«Ich kenne sämtliche Blickwinkel in dieser Kirche, weil ich sie zufällig mag. Weder vom Beichtstuhl noch von der MarienNische aus sind die Stelle, wo Frau Steinig sich aufgehalten hat, oder der Ausgang erkennbar. Ganz abgesehen davon, daß die Kirche dunkel war und die Nische hell und daß Sie andauernd in die vielen Kerzenflammen dort hineingestiert haben. Sie waren vollkommen geblendet.» ‹Wie des öfteren›, fügte Laubmann hinzu, aber nur in Gedanken. «Frau Steinig hätte folglich zur Tatzeit die Kirche verlassen und zurückkehren können, und niemand hätte es bemerkt, denn außer Pfarrer Nüßlein im Beichtstuhl und Ihnen vor dem Marienbild war keine Seele mehr anwesend.»
Kommissar Glaser gab acht; er beobachtete Hüttenberger scharf. Wie würde er auf die Beschuldigung von Melitta Steinig reagieren? Läßt er's zu, freut er sich gar? – Josef Maria reagierte überhaupt nicht, wirkte resigniert und ließ den Vorwurf gegen sein «Freundin» auf sich beruhen. Selbst die Steinig tat das.
«Es gibt jedoch eine zweite Möglichkeit», setzte Laubmann seine Überlegungen sogleich fort: «Herr Hüttenberger war vor der Tatzeit im Beichtstuhl, und anstatt ins Hauptschiff zu gehen, hat er vom rechten Seitenschiff aus die Kirche zur Tatzeit verlassen. Wer sollte denn sein Verschwinden schon mitbekommen? Der Beichtvater scheidet aus, weil er's vom Beichtstuhl aus nicht sieht, und Frau Steinig sitzt oder kniet weiter vorne in einer Bank, mit dem Rücken zum Ausgang. Der Ausgang selbst liegt im Dunkeln, die Türen quietschen nicht und der Kirchenraum ist mittels der Lautsprecheranlage erfüllt mit meditativer Orgelmusik, weil Pfarrer Nüßlein zu der Zeit eine CD laufen läßt. Das wirkt außerdem einschläfernd. Schlimmstenfalls mag jemand einen leichten Windhauch beim Öffnen der Außentür verspürt haben.»
«Argumentativ sehr überzeugend, finden Sie nicht?» Glasers Blick machte provokant die Runde. «Damit haben wir in unsrem illustren Kreis insgesamt vier Personen, die ziemlich mühelos zum Unfallort gelangen konnten, um Franziska Ruhland auf die Straße zu stoßen. Ein schönes und klares Ergebnis – und wer hat's wirklich getan?» «Das hätt' ich bemerken müssen, Herrn Hüttenbergers Weggehen», stieß Melitta Steinig zitternd ob all der Aufregung hervor. Es hörte sich wie der Versuch an, Josef Maria zu verteidigen. Prestl und Konrad hielten sich bedeckt. Das Kircheninnere verdunkelte sich trotz der vormittäglichen Stunde bisweilen; der Himmel war bewölkt. Laubmann berücksichtige Melitta Steinigs Einwand nicht, obwohl er ihn registriert hatte, und schickte sich statt dessen an, Glasers wichtige Frage zu beantworten. Scheinbar recht umständlich. «Betrachten wir mal, wo Franziska Ruhland am Abend ihres Todes überall war. Diese merkwürdig brüchige Spur: Zuerst sieht sie der Hausmeister in der Universität, später eine Nachbarin vor Konrads Wohnung; und schließlich ihr Auftauchen am Wallfahrtsort Heiligenberg.» Prestl und Konrad sahen sich verwundert an.
«Ich bin sicher, der Schlüssel für ihr Verhalten liegt in dem Besuch bei Pater Erminold Eichfelder am Vorabend, also am 21. Oktober. Er rät ihr als ihr väterlicher Vertrauter immer wieder zur Heirat. Und an diesem Tag wollte sie den Rat noch einmal bestätigt haben. Sie ist völlig aufgewühlt. Und deshalb will sie Professor Konrad, ihren ‹Zukünftigen ›, dringend sprechen, gleich am darauffolgenden Tag. Für sie geht es um alles. Aber für ihn steht die Vortragsveranstaltung am Abend im Vordergrund. Er hat an diesem Tag und an diesem Abend keine Zeit für sie, ignoriert ihr Drängen. Franziska stellt sich nach dieser Ablehnung ihrer Bitte um ein sofortiges, alles veränderndes Gespräch, demonstrativ in den Innenhof der Fakultät, im symbolischen weißen Kostüm, um ihn nochmals aufzufordern oder ihn herauszufordern und bloßzustellen. Und er nimmt erneut keine Rücksicht.
Vergegenwärtigen Sie sich ihre Situation. Was soll sie tun? Sie befindet sich vermutlich in einem Zustand echter Bedrängnis, denn sie hat sich mit Hilfe ‹ ihres › Paters diesmal endgültig und unwiderruflich zu einer wirklichen und folgenschweren Entscheidung durchgerungen, nämlich einen Priester zu ehelichen, mit all den zu erwartenden kirchlichen Schwierigkeiten, und zwar in allernächster Zeit. Sie muß jetzt einfach etwas tun.Von den ‹unverbindlichen› Planungen des Professors hat sie genug.
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