Laubmann 2 - Bärenzwinger
ich nicht abreisen sollte.»
Und so unrecht hatte er nicht. Erst gegen halb vier waren die aktuellen Untersuchungen der Kriminalpolizei erledigt. Ernst Lürmann war sichtlich erschöpft aus den Gewölben herauf in den Palas gekommen und meldete, daß weder am Ende des unterirdischen Gangs noch an den Außenmauern der Burg Fluchtspuren zu erkennen gewesen waren. Die negativen Ergebnisse bestärkten Dietmar Glaser in seinem Vorhaben, bereits am späteren Montagvormittag – immerhin nach einigen Stunden Schlaf – mit den gezielten Befragungen der Tagungsteilnehmer und Angestellten zu beginnen.
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Welch ein Gegensatz: noch vor kurzem, als sich auch die letzten ins Bett begeben konnten, Nacht und heftiges Schneetreiben – und nun ein herrlicher kalter Wintermorgen mit einem vollkommen klaren Himmel und einer strahlenden weißen Landschaft, so weit das Auge reichte. Wer immer in den Hof hinaustrat oder bloß ein Fenster öffnete, sog die frostige Luft unwillkürlich tief ein, als könne sie jegliches Bedrücktsein, jegliche Trauer hinfortnehmen. Die Burggebäude umgab nun jene friedvolle Ruhe, die ein akademischer Ort benötigte.
Leider war sie trügerisch. Das Trügerische rührte freilich von den Menschen her, nicht von der Burg. Jeder fühlte es, fühlte es so, als würde es aus ihm heraus entstehen. Niemand war unter ihnen, der sich nicht des ungeheueren Verdachts bewußt war, der auf jeder und jedem von ihnen lastete. Keiner konnte sich des Mißtrauens erwehren, das sich gegen eine Person mehr und gegen eine andere weniger richtete. Und bisweilen spürte man, wie sich das Mißtrauen der anderen gegen einen selber wandte.
Da half nur noch Beten. Davon war Prälat Glöcklein überzeugt. Er war erbost gewesen, daß nur die an der Tagung teilnehmenden katholischen Priester – inklusive des Kastellans als Meßdiener – mit ihm die an den Werktagen für 7 Uhr 30 festgesetzte Messe in der Burgkapelle gefeiert hatten. Glöcklein mochte das gemeinsame Feiern der Eucharistie mit Priesteramtskollegen, die Konzelebration, weil sie ihm, gerade in der geheiligten Handlung, ein oft vermißtes Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelte.
Denn katholischen Priestern wird kirchenrechtlich sehr empfohlen, täglich zu zelebrieren. Das tägliche Breviergebet gilt sogar als Pflicht. Glöcklein, Bebenhausen und Meister waren freilich nicht immer auf die Konzelebration angewiesen. Denn gemäß des priesterlichen Rechts auf Einzelzelebration war vor Jahren im Palas eine kleine Hauskapelle geschaffen worden. So hatte jeder die freie Wahl.
7 Uhr 30 war aber nach der aufregenden und kurzen Nacht wirklich zu früh für die meisten, zumal die tägliche Morgenmesse für die nichtpriesterlichen Gäste der Akademie ausdrücklich nur ein Angebot sein sollte. Lediglich für die Sonntage war der Meßbeginn auf eine moderatere Zeit, nämlich zehn Uhr, gelegt worden, da die Gläubigen ihrer eucharistischen Sonntagspflicht mit Freuden nachkommen sollten.
Auch Philipp Laubmann hatte bald schon wieder, etwa gegen acht, das Bett verlassen. Er hatte sich gewaschen und angekleidet und war auf einen der mit Zinnen versehenen runden Ecktürme gestiegen, und zwar auf den, der über dem Bärenzwinger aufragte. Die Bärinnen waren erstaunlich munter; ihnen schien die Kälte nichts anzuhaben. Vom Turm aus konnte Philipp auf dem Gästeparkplatz an der Vorburg seinen weißen, zweitürigen Opel sehen, den er vor Jahren gebraucht erworben hatte, der ihm heute jedoch wie neu erschien. Aus der Ferne ließ sich eben nicht mehr zwischen Lack- und Schneeschicht unterscheiden.
Gerade als der städtische Schneepflug, der die Nacht über im Einsatz gewesen war, ein letztes Mal die Straße zur Burg freiräumte, kam auch die Tochter des Kastellans auf den Eckturm, um vor dem etwas in den Tag hineinverschobenen Frühstück und vor ihrem heute verspäteten Dienstbeginn die Morgenstimmung zu genießen. Sie trug einen hellbraunen Lammfellmantel mit hochgeschlagenem Kragen, der ihre kurzen schwarzbraunen Haare berührte, und dazu passende schokoladenbraune Winterstiefel. Ihre Hände verbarg sie in den Manteltaschen.
Laubmann hatte eine schwarze Wollmütze ohne Bommel, die braunen Lederhandschuhe und seine abgetragene mattgrüne Wolljacke übergezogen. Er war hocherfreut über Gisela Mertens zufälliges Erscheinen und begrüßte sie fast zu überschwenglich.
Diese konnte sein Euphorie nicht so ganz einordnen. «Sie scheinen die kurze Nacht und das schreckliche
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