Lauf des Lebens
Leben genießen. Und noch wichtiger: Sie hatte gelernt, sich selbst zu respektieren, was das Schwierigste von allem gewesen war.
Aber die Berührung eines Mannes konnte sie nach wie vor nicht ertragen.
In jener Nacht hatte sich tatsächlich entschieden, dass sie nie mehr heiraten und Kinder haben würde. Und seitdem klar war, dass ihr diese Lebensform verwehrt bleiben würde, hatte sie sie für sich abgehakt und beschlossen, ihr nicht unnötig hinterherzutrauern. Stattdessen war sie zu einer Art Nomadin geworden, die durchs Land zog und anderen Menschen half. Während sie mit einem Patienten arbeitete, hatte sie eine zwischenmenschliche Beziehung voller Liebe und Fürsorge, aber ohne jede sexuelle Färbung. Sie liebte ihre Patienten, und diese erwiderten ihre Liebe fast zwangsläufig – für die Zeit der Behandlung. Ihre Patienten waren ihre Familie, bis zu dem Tag, an dem die Therapie beendet war und Dione mit einem Lächeln im Gesicht weiterzog, zu ihrer nächsten „Familie“.
Als Dione ihre Ausbildung begann, hatte sie sich gefragt, ob sie überhaupt je mit Männern würde arbeiten können. Die Frage beschäftigte sie so lange, bis ihr klar war, dass andernfalls ihre Karriere darunter leiden würde. Also beschloss sie, sich dem Unvermeidlichen zu stellen. Bei ihrem ersten männlichen Patienten hatte sie noch die Zähne zusammenbeißen und all ihre Willenskraft aufbringen müssen, um ihn anzufassen. Doch nach einigen Minuten hatte sie begriffen, dass therapiebedürftige Männer nicht in der körperlichen Verfassung waren, um sie anzugreifen – und dass Männer ebenso hilfebedürftige menschliche Wesen sein konnten wie Frauen.
Trotzdem zog sie es vor, mit Kindern zu arbeiten. Die waren so freigiebig und treuherzig in ihrer Liebe. Berührungen von Kindern machten ihr nichts aus. Mittlerweile genoss sie es sogar, wenn sich kleine Ärmchen in einer überschwänglichen Umarmung um ihren Hals warfen. Gelegentlich kam die Enttäuschung darüber, niemals eigene Kinder zu haben, dann doch in ihr hoch. Und da es ihr nicht immer gelang, diese Enttäuschung wegzuschieben, versuchte Dione, sie durch eine ganz besondere Hingabe an ihre kleinen Patienten zu kompensieren. Aber das Bedürfnis, jemanden für sich ganz allein zu haben, jemanden, der zu ihr gehörte und dem sie gehörte, war einfach zu tief in ihr verankert, um es ganz ausblenden zu können.
Plötzlich hörte sie ein gedämpftes Geräusch. Sie hob ihren Kopf vom Kissen und horchte, ob es sich wiederholte. Blake? Hatte er gerufen?
Nichts als Stille. Doch sie wusste, dass sie nicht eher zur Ruhe kommen würde, bis sie geschaut hatte, ob bei ihm alles in Ordnung war. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihren Morgenmantel und ging leise zum Nachbarzimmer. Als sie die Tür einen Spaltbreit öffnete, sah sie Blake in derselben Position liegen wie zuvor. Sie wollte gerade wieder gehen, als er versuchte, sich auf die Seite zu drehen. Weil seine Beine ihm nicht gehorchten, stieß er denselben Laut aus, den sie zuvor gehört hatte – halb Seufzen, halb Grunzen.
Hilft ihm denn niemand beim Wechseln seiner Positionen? fragte sie sich und schlich barfuß in sein Zimmer. Wenn er zwei Jahre lang auf dem Rücken gelegen hatte, war es kein Wunder, dass er stur war wie ein Wasserbüffel.
Sie wusste nicht, ob er wach war oder nicht; wahrscheinlich schlief er. Aber genau erkennen konnte sie es nicht, denn das Licht im Flur brannte jetzt nicht mehr, weil alle im Bett waren. Und das Licht der Sterne, das durch die Glastüren hereinfiel, war zu schwach. Vielleicht hatte er, wie es völlig normal war, im Schlaf versucht, sich umzudrehen. Falls er tatsächlich schlief, konnte sie seine Lage womöglich vorsichtig verändern, ohne ihn aufzuwecken. Es war eine kleine Geste der Sorge und Anteilnahme, eine Gefälligkeit, die sie den meisten ihrer Patienten erwies, ohne dass diese es merkten.
Zuerst berührte sie ihn leicht an der Schulter. Sie legte ihm einfach die Hand auf den Körper und ließ seinem Unterbewusstsein Zeit, sich an die Berührung zu gewöhnen. Nach einer Weile übte sie einen sanften Druck aus. Sein Körper gehorchte und versuchte, sich rechts herum zu drehen, ihr entgegen. Langsam und behutsam half sie ihm, indem sie seine Beine anhob, damit die ihn nicht zurückrollen ließen. Mit einem leisen Seufzer vergrub er sein Gesicht wieder im Kissen, seine Atmung wurde tiefer, und er entspannte sich.
Lächelnd zog sie ihm die Decke über die Schultern und ging in ihr
Weitere Kostenlose Bücher