Lauf des Lebens
waren ruhelos, wenn sie ihn anblickte. Trotzdem stürzte sie sich mit unbeirrbarer Entschlossenheit in die kurze noch verbleibende gemeinsame Zeit, denn sie wollte so viele ungetrübte Erinnerungen wie möglich sammeln. Wie einen Goldschatz hortete sie Blakes tiefes Lachen, die herzhaften Flüche, die er ausstieß, wenn seine Beine ihm nicht gehorchten, oder den Anblick der kleinen Kuhle in seiner Wange, die sich zu einem Grübchen vertiefte, wenn er freudig triumphierend zu ihr aufblickte.
Blake war so quicklebendig und so männlich, dass er endlich eine Frau haben musste. Aber sosehr sie ihn auch liebte, sie wusste, dass sie ihn in dem Bereich, der ihm so wichtig war, nicht befriedigen konnte. Blake war ein sehr sinnlicher, körperbetonter Mensch. Dieser Wesenszug trat von Tag zu Tag und in dem Maße immer mehr hervor, in dem er die Kontrolle über seinen Körper wiedererlangte. Dione wollte ihm die Bürde der düsteren, wirren Vergangenheit nicht aufhalsen, die sie hinter ihrer glatten Fassade mit sich herumtrug. Sie wollte auch nicht, dass er sich schuldig dafür fühlte, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Auch wenn es sie umbrachte, wenn es sie in Stücke riss, sie würde ihre Beziehung in ruhigen Fahrwassern lassen, würde ihn bis zum Ende der Therapie begleiten, würde mit ihm seine allerersten Schritte feiern – und ihn dann so schnell wie möglich verlassen. Schließlich hatte sie jahrelange Erfahrung damit, ihre Gefühle und ihren Körper ausschließlich ihren Patienten hinzugeben. Nein, korrigierte eine kleine Stimme in ihrem Inneren: Ihren Körper hatte sie noch nie irgendjemandem hingegeben, außer Blake. Und das wusste er nicht einmal. Sie würde sich lächelnd von ihm verabschieden und dann gehen. Und er würde sein früheres Leben wieder aufnehmen. Vielleicht würde er gelegentlich an seine Therapeutin denken – um sie dann schnell wieder zu vergessen.
Wie das Objektiv einer Kamera versuchten Diones Augen begierig, möglichst viele Bilder von ihm einzufangen, um sie in ihre Erinnerung, ihre Träume, in jede Faser ihres Seins einzubrennen. So zum Beispiel an jenem Morgen, als sie sein Zimmer betrat, ihn im Bett liegen und mit äußerster Konzentration auf seine Füße starren sah. „Schau mal“, ächzte er, und sie schaute. Sein Gesicht war schweißnass, seine Fäuste geballt … und seine Zehen bewegten sich. Er ließ seinen Kopf in die Kissen sinken und warf ihr ein strahlendes, triumphierendes Lächeln zu. Ihr heimlicher Auslöser klickte und machte ein Erinnerungsfoto. Oder in jener Nacht, als er sie nach ihrem Sieg in einer heiß umkämpften Schachpartie mit einem finsteren Blick bedachte und ähnlich empört reagierte wie damals, als sie sich als Gewichtheberin geoutet hatte. Ob lachend oder grimmig, er war das wundervollste und kostbarste Ereignis ihres Lebens, und deshalb beobachtete sie ihn ohne Unterlass.
Es war nur einfach nicht gerecht, dass dieser Mann, der so überreich ausgestattet war mit positiven Eigenschaften, und dessen Schalk und Übermut sie ebenso betörend fand wie seine kompromisslose Willenskraft, dass dieser Mann verbotenes Terrain für sie war.
Hinter Diones goldenen Augen verbarg sich eine Welt stillen Leids. Wenn sie fremde Blicke auf sich spürte, hatte sie sich bestens im Griff, doch sobald sie alleine war, sprachen ihre traurigen Augen Bände. Sie war so beschlagnahmt von der Entdeckung ihrer Liebe und dem Kummer über ihre Unerfüllbarkeit, dass sie gar nicht merkte, wie Blakes dunkelblaue Augen ihre Blicke forschend erwiderten, wie sie den Schmerz in ihrem Gesicht lasen und zu ergründen versuchten.
An einem der ersten Novembertage, als die flirrende Phoenixer Hitze auf angenehme fünfundzwanzig Grad heruntergekühlt war, hatten sie den Meilenstein erreicht, auf den sie beide so hart hingearbeitet hatten – und den Dione plötzlich so fürchtete. Blake hatte den ganzen Morgen so hart am Barren trainiert, dass er seine Beine zuletzt nur noch hinter sich her schleifte. Seine dunkelblaue Sporthose klebte klitschnass an seiner verschwitzten Haut. Dione war ebenfalls erschöpft, denn sie hatte sich die ganze Zeit in der Hocke neben ihm her bewegt und seine Beine immer wieder in den richtigen Bewegungsablauf gebracht. Jetzt ließ sie sich zu Boden fallen.
„Lass uns eine Minute pausieren“, schlug sie müde vor.
Mit bebenden Nasenflügeln gab Blake eine Art Knurren von sich. Seine Hände krampften sich immer noch um die Holme, seine Zähne waren fest
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