Lauf, Jane, Lauf!
nicht aus dem Haus gehen. Sie ist ein richtiges Heimchen. Und Emily?«
»Sie geht gern zur Schule«, antwortete Jane mit klopfendem Herzen. War es möglich, daß Anne Halloren-Gimblet einfach nichts von Emilys Tod gehört hatte? »Waren Sie in letzter Zeit mal wieder auf einem Ausflug mit der Klasse?«
»Ich war bei einer Besichtigung der Feuerwehr dabei, aber alle waren so schrecklich artig, daß es überhaupt keinen Spaß gemacht hat. Sie haben mir gefehlt.« Verlegen spielte sie mit den Händen. »Es tut mir leid, aber ich muß mich jetzt wirklich fertigmachen...«
Jane folgte ihr in den Flur. Sie hatte noch immer keinen schlüssigen Beweis. Was sollte sie tun oder sagen? Sie mußte mit Sicherheit wissen, ob Shannon und Emily auch dieses Jahr zusammen in der Schule gewesen waren; ob der Ausflug nach Boston, an dem sie selbst teilgenommen hatte, wirklich erst vor sechs Monaten stattgefunden hatte und nicht schon im vergangenen Jahr. Sie mußte mit Sicherheit wissen, ob Emily noch am Leben war.
»Glauben Sie, die Mädchen kommen im nächsten Jahr auch wieder in eine Klasse?« fragte sie und spähte ins Wohnzimmer hinein.
»Na ja, sie sind doch seit der Vorschule in einer Gruppe«, antwortete
Anne. Sie öffnete die Haustür. »Da werden sie sie jetzt sicher nicht auseinanderreißen.«
Jane ignorierte die geöffnete Haustür und ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Den Familienfotos auf dem Kaminsims schenkte sie keine Beachtung, sondern konzentrierte sich nur auf die vertrauten Klassenfotos, die auf dem Klavier standen.
»Unglaublich, wie schnell sie wachsen, nicht wahr«, bemerkte Anne, die hinter sie getreten war und ihr über die Schulter sah.
Jane musterte die Klassenfotos, entdeckte ohne Mühe ihre Tochter - Kindergarten, Vorschule, erste Grundschulklasse. Das vierte Foto, das auf dem Klavier stand, kannte sie noch nicht.
»Das ist mir das liebste«, sagte Anne und nahm die Aufnahme aus der zweiten Klasse vom Klavier. »All diese strahlenden Gesichter und die herrlichen Zahnlücken.«
Jane riß der Frau das Foto aus der Hand.
»Was ist denn?« rief Anne erschrocken und pikiert.
Aber Jane achtete gar nicht auf sie. Ihr Blick flog über die Gesichter der Kinder, bis sie ihre Tochter gefunden hatte, die wie auf den anderen Bildern in der letzten Reihe stand, die Schultern leicht nach vorn gekrümmt wie ihr Vater, ihr Lächeln scheu und zurückhaltend.
»O Gott, o Gott!« rief Jane weinend. »Sie lebt! Sie lebt!«
»Mrs. Whittaker«, sagte Anne und benutzte sicherheitshalber die förmliche Anrede, »soll ich Ihren Mann anrufen?«
»Meinen Mann?« Jane starrte sie an. »Nein! Nein! Auf keinen Fall. Rufen Sie bitte nicht meinen Mann an.«
Anne legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Okay, okay, ich ruf ihn nicht an. Aber ich mache mir Sorgen. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie hierher gekommen sind, aber ich habe den Eindruck, daß etwas nicht in Ordnung ist. Können Sie es mir nicht sagen?«
Jane konnte kaum sprechen. »Jetzt ist alles gut. Emily lebt. Mein Kind lebt.«
»Aber natürlich lebt sie.«
»Sie lebt. Ich habe sie nicht umgebracht.«
»Umgebracht? Mrs. Whittaker, ich glaube, es ist doch besser, wenn ich Ihren Mann anrufe...«
»Er hat zu mir gesagt, sie wäre bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich hätte den Wagen gefahren, und sie wäre in meinen Armen gestorben...«
»Was? Wann? Großer Gott, wann ist das passiert?«
»Aber sie ist ja gar nicht tot. Sie lebt. Da ist sie ja.« Sie stocherte mit dem Finger auf dem Foto herum. »Sie war bei Shannon in der Klasse.«
»Ja, sie lebt«, sagte Anne, und Jane fiel eine merkwürdige Nachsicht im Ton der Frau auf, als wäre sie zu dem Schluß gekommen, daß Janes Gestammel ohnehin nicht zu verstehen war und es daher sinnlos war, es zu versuchen. »Sie lebt und sie ist ein entzückendes Mädchen. Sehr groß. Sie ist in den letzten Monaten unglaublich gewachsen. Bald wird sie Miß Rutherford über den Kopf wachsen.«
Eine Sekunde war es völlig still.
»Was haben Sie gesagt?« fragte Jane dann.
Anne Halloren-Gimblet sprach so leise, daß ihre Worte kaum zu hören waren. »Ich sagte, sie wird ihrer Lehrerin bald über den Kopf wachsen.«
»Die Lehrerin heißt Rutherford?«
Ein Unterton der Beunruhigung schlich sich wieder in Annes Stimme. »Wußten Sie das nicht?«
»Pat Rutherford?«
»Ja, ich glaube.«
»Ich war mit Emilys Lehrerin verabredet!« flüsterte Jane erstaunt.
»Ja, natürlich. Am Ende des Schuljahrs gibt es
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