Lauf, Jane, Lauf!
Könnten Sie bitte die Schildchen abschneiden?«
»Sie wollen es gleich anlassen?«
Sie nickte. »Wenn es geht...«
Die Frau zuckte die Achseln. »Und wie wollen Sie bezahlen?«
»Bar.«
»Das habe ich mir fast gedacht.« Die Frau ging mit ihr zu einer Theke und zog einen Quittungsblock heraus. »Ich habe schon ewig keine Barzahlung mehr gehabt. Hoffentlich weiß ich überhaupt noch, wie das geht.« Sie sah sich unruhig um. »Ach, ich glaube, Sie haben Ihre Handtasche in der Kabine liegengelassen...«
»Ich habe keine Handtasche.«
Der Frau schien der Atem zu stocken.
»Ich habe Geld.« Sie tippte auf ihre Plastiktüte. »Ich habe nur keine Handtasche. Ich brauche eine neue.«
Die Verkäuferin bemühte sich nach Kräften, die Plastiktüte nicht anzustarren. »Sie brauchen anscheinend eine ganze Menge Sachen.«
»Ja, das stimmt.«
»Da sind Sie hier richtig. Handtaschen bekommen Sie im Erdgeschoß gleich neben der Kosmetikabteilung. - So, das macht zweihundertsiebenunddreißig Dollar und achtundzwanzig Cents.«
Sie griff langsam in die Plastiktüte und holte drei Hundert-Dollar-Noten heraus. Die Verkäuferin beobachtete sie mit aufgerissenen Augen, wandte dann hastig den Blick ab, wechselte und sah zu, wie das Wechselgeld in die Plastiktüte wanderte. Dann schnitt sie ohne weiteren Kommentar die Schilder von den neu gekauften Sachen. Sie hatte sich offensichtlich entschieden, lieber nicht wissen zu wollen, was da eigentlich vorging.
»Wie gesagt, Handtaschen gibt es im Erdgeschoß gleich neben der Kosmetikabteilung«, rief die Verkäuferin ihr nach, als sie ging.
Die folgende Stunde verbrachte sie mit Einkaufen. Erst vertauschte
sie die Charles-Jourdan-Schuhe gegen offene Leinensandalen, erstand einen neuen Büstenhalter und ein Höschen in blaß rosa Seide, eine elegante kleine Handtasche aus cremefarbenem Leder, eine dunkelblaue Geldbörse und eine Sonnenbrille mit Schildpattgestell. Es ging alles ein wenig langsam, weil sie bar zahlte, was man hier längst nicht mehr gewöhnt war. Dann wanderte sie weiter in die Kosmetikabteilung, wo die eifrige junge Verkäuferin sie zum Kauf eines pfirsichfarbenen Rougepuders und eines persischrosa Lippenstifts überredete und ihr zum Schluß noch eine Wimperntusche mit Zobelhärchen aufschwatzte.
Mit ihren Einkäufen beladen verzog sie sich in die Toilette, schloß sich in einer der Kabinen ein, zog sich aus und vertauschte ihre Unterwäsche mit den zartrosa Dessous, die sie gerade gekauft hatte. Nachdem sie Hose und Pulli wieder angezogen hatte, steckte sie mehrere Scheine aus der Plastiktüte in die neu erstandene Geldbörse und verstaute die zusammen mit der neuen Sonnenbrille in der neuen Handtasche. Sie wickelte die alte Unterwäsche in ihren Mantel und trat aus der Kabine. Mit einem verlegen lächelnden Blick auf die blauhaarige alte Dame, die gerade vor dem Spiegel ihre Zahnprothese zurechtschob, ging sie zum Abfalleimer und warf das Kleiderbündel hinein.
Dann stellte sie sich neben die Frau vor den Spiegel, und trug mit leichten Pinselstrichen das Rougepuder auf ihre Wangen auf und sah zu, wie ihre unansehnlichen Wimpern sich mit Hilfe der Tusche zu exotischer Üppigkeit entfalteten. Der rosa Lippenstift wirkte auf ihren Lippen ähnlich spektakulär.
»Das ist ja eine wunderschöne Farbe«, sagte die blauhaarige Frau. »Wie heißt der Ton?«
Sie sah auf die Unterseite des Stifts. »Alles rosig«, las sie vor.
»Wie wahr«, sagte die Frau und verschwand.
»Wie wahr«, wiederholte sie und dachte dabei nicht an ihre Lippen, sondern an ihr Dilemma. »Wie wahr.«
Sie war erstaunt, wie gut sie die Stadt kannte. Sie wußte genau, wo alles war, ob sie zu Fuß gehen konnte oder den Bus nehmen mußte, ob es sich lohnte, ein Taxi zu nehmen. Sie fühlte sich zu Hause in dieser Stadt, und doch war ihr nicht ein einziges bekanntes Gesicht begegnet, keiner hatte sie angehalten, nichts von allem, was sie sah, hatte Anstoß zu einer bestimmten Erinnerung oder Reaktion gegeben. Sie fühlte sich anonym und allein wie ein Kind, das sich verlaufen hat und seit Tagen darauf wartet, von seinen nachlässigen Eltern abgeholt zu werden.
Sie kam an einem Zeitungskiosk vorbei, aber sie wußte schon, daß auch diesmal in der Zeitung nicht ein Wort über sie verloren wurde. Sie wurde nicht nur von keinem Menschen gesucht, es schien überhaupt niemand zu wissen, daß sie verschwunden war. »Alles rosig«, murmelte sie vor sich hin, als sie sah, daß sie vor dem Greyhound
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