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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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Hundert-Dollar-Noten und ihr blutdurchtränktes Kleid vor sich. Sie wußte es genau.
    Wenn er an ihrer Antwort Zweifel hatte, so gab er es nicht zu erkennen. »Aber an die Ereignisse der letzten Tage können Sie sich ohne weiteres erinnern?«
    »Ja.«
    »Wie steht es mit aktuellen Ereignissen? Wissen Sie, wer Präsident ist?«
    »Ich weiß, wer Präsident ist«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, ob ich ihn gewählt habe.«
    »Stehen Sie auf.« Er half ihr vom Untersuchungstisch. »Schließen Sie die Augen und versuchen sie, auf einem Bein zu stehen. Gut. Jetzt auf dem anderen. Wer bin ich?«
    »Dr. Meloff. Warum fragen Sie mich das dauernd? Ich kann mich an jeden erinnern, nur nicht an mich selbst.«
    »Sie können die Augen wieder aufmachen.«
    Sie tat es und begegnete dem unfreundlichen Blick Dr. Klingers. »Die Patientin kann jetzt zum CT«, sagte er, als wäre sie gar nicht da.
    Dr. Meloff nahm ihren Arm. »Ist gut, Herr Kollege«, sagte er und führte sie aus dem Untersuchungsraum. »Ich begleite Mrs. McDonald zum Röntgen.«
    Mit einem Lächeln der Erleichterung trat sie mit ihm in den Korridor hinaus.
    Die Röntgenabteilung befand sich im Souterrain des Krankenhauses. Die Patienten, denen sie in den tristen Gängen begegneten, wirkten ängstlich und verwirrt, das Personal wirkte zerstreut, übermüdet, überarbeitet. Alle sahen sie aus, als wünschten sie, irgendwo anders zu sein, ganz gleich, wo.

    In dem Raum, in dem sie untersucht werden sollte, stand in der Mitte ein massiges tunnelähnliches Monster. Man wies sie an, sich auf einem langen, schmalen Tisch niederzulegen, der in das Monster eingefahren werden sollte. Sie mußte die Arme dicht am Körper halten und ganz still liegen. Eine Assistentin griff ihr ins Haar, um festzustellen, ob sie Haarnadeln darin hatte, und gab ihre Handtasche einer Schwester.
    »Was passiert denn jetzt?« Ihre Stimme klang ziemlich jämmerlich.
    »Okay, bleiben Sie ganz locker. Es tut nicht weh.«
    »Aber was machen Sie?«
    »Nur eine kleine Untersuchung.«
    Sie fuhr in die Höhe, um zu protestieren.
    »Nein, bleiben Sie ganz ruhig liegen. Ich verspreche Ihnen, es tut nicht weh. Versuchen Sie, sich zu entspannen. In zehn Minuten ist es vorbei.«
    »Und dann?« fragte sie, als sie schon in die Maschine hineingeschoben wurde.
    »Ganz still liegen«, mahnte die Assistentin. »Schließen Sie die Augen. Machen Sie ein kleines Nickerchen.«
    »Wir sehen uns in zehn Minuten«, rief Dr. Meloff, als die Dunkelheit sich wie eine weiche Decke über ihr Gesicht senkte.
    Ihr Körper vibrierte zum leisen Summen der Maschine, während sie Zentimeter um Zentimeter tiefer in den Tunnel hineinglitt. Sie hätte gern die Augen geöffnet und sich umgesehen, getraute sich aber nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, ob man ihr gesagt hatte, sie solle die Augen geschlossen lassen. Sie konnte nur die Ermahnung hören, still zu liegen.
    Rühr dich nicht, flüsterte sie lautlos. Halt den Kopf ganz still. Hab keine Angst. Hab keine Angst. Hab keine Angst.
    Es sind ja nur zehn Minuten, versuchte sie sich zu trösten und hätte am liebsten laut geschrien. Nur zehn Minuten, dann bist du wieder raus aus diesem verdammten Ding. Zehn Minuten
würde sie es ja wohl aushalten können. Zehn Minuten waren eine winzige Zeitspanne gemessen an der Ewigkeit. Zehn Minuten war wirklich nicht zuviel verlangt.
    Zehn Minuten waren eine Ewigkeit; eine endlose Folge von Sekunden, die man durchstehen mußte. Niemals hätte sie diesen Untersuchungen zustimmen sollen. Sie hätte gar nicht erst hierher kommen sollen. Sie hätte überhaupt nicht zur Polizei gehen sollen. Sie hätte im Lennox Hotel bleiben sollen, bis ihr das Geld ausgegangen wäre und sie keine andere Wahl mehr gehabt hätte.
    Sie hätte davonlaufen sollen, verschwinden. Wieviele Menschen gab es schon, denen die Chance geboten wurde, ein ganz neues Leben anzufangen? Mancher wäre bereit, für eine solche Chance zu töten! Und sie - hatte sie dafür getötet?
    Nein, sagte sie sich, fang nicht wieder an nachzugrübeln. Jetzt nicht. Sie mußte aufhören, sich den Kopf zu zerbrechen, wer sie vielleicht war und was sie vielleicht getan hatte. War das nicht der Grund, weshalb sie hier war? Damit die Leute hier ihre Fragen beantworten konnten?
    Wieso war es überhaupt so ungeheuer wichtig zu wissen, wer man war? Man brauchte doch nur die unzähligen Menschen auf dieser Welt anzusehen, die genau wußten, wer sie waren, und dabei todunglücklich waren. Nein! Sie hatte die

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