Lauf, Jane, Lauf!
Es ist mir peinlich, aber ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wie alt sie sind.«
»Ich bin also Tante?«
»Richtig.«
»Was bin ich noch?« fragte sie plötzlich, ohne es zu wollen.
»Wie meinst du das?«
Sie schluckte, als könnte sie so die Frage, die sie hatte vermeiden wollen, zurücknehmen. »Ich bin Tante«, wiederholte sie und nahm dann ihren ganzen Mut zusammen. »Bin ich auch Mutter?«
»Ja.«
»O Gott!« stöhnte sie leise. Wie hatte sie vergessen können, daß sie ein Kind hatte? Was war sie für eine Mutter? »O Gott!« Sie fing an zu zittern, und der Kopf sank ihr auf die Brust.
»Ist ja gut. Ist ja gut«, flüsterte er, und seine Stimme war wie Balsam, der Schutz und Linderung brachte. Er legte ihr den Arm um die Schultern und richtete sie auf. Als sie den Kopf an seine Brust drückte, hörte sie sein erregtes Herzklopfen. Seine Angst war nicht geringer als ihre.
Ein paar Minuten lang ließ er sie ungestört weinen und streichelte ihren Rücken, als wäre sie ein Kind. Dann fragte sie: »Wieviele Kinder haben wir?« Aber ihre Stimme war so leise, daß sie sich räuspern und die Frage wiederholen mußte.
»Nur eines. Ein Mädchen. Emily.«
»Emily«, wiederholte sie und kostete den Namen auf der Zunge wie Wein. »Wie alt ist sie?«
»Sieben.«
»Sieben«, flüsterte sie staunend. »Sieben.«
»Sie ist im Augenblick bei meinen Eltern«, sagte er. »Ich hielt es für besser, daß sie bei ihnen bleibt, bis sich alles geklärt hat.«
»Oh, danke dir.« Aus Scham wurde Erleichterung. »Es wäre bestimmt nicht gut für sie, wenn sie mich so sähe.«
»Natürlich. Ich verstehe dich.«
»Es wäre doch schrecklich für sie, ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen und zu wissen, daß ihre Mutter sie nicht erkennt. Etwas Beängstigenderes kann ich mir für ein Kind kaum vorstellen.«
»Mach dir keine Sorgen. Das ist alles geregelt«, beruhigte er sie. »Meine Eltern haben sie in ihr Sommerhaus mitgenommen.
Sie kann den ganzen Sommer dortbleiben, wenn wir das möchten.«
Sie räusperte sich wieder und wischte die Tränen von den Wangen. »Wann hast du das alles arrangiert?«
Er zuckte leicht die Achseln und breitete dabei die Hände aus. »Es hat sich eigentlich von selbst ergeben«, antwortete er wie in hilfloser Anerkennung der Tatsache, daß er im Augenblick über nichts in seinem Leben die Kontrolle hatte. »Wir hatten schon vereinbart, daß Emily bei meinen Eltern bleiben sollte, solange du in San Diego bist...««
»Sag mir mehr über mich selbst«, drängte sie.
»Was möchtest du denn wissen?«
»Das Gute«, antwortete sie augenblicklich.
Er zögerte nicht. »Hm, du bist intelligent, entschlossen, lustig -«
»Ich bin lustig?«
»Du hast einen köstlichen Humor.«
Sie lächelte dankbar.
»Du bist eine Meisterköchin, ein prima Kumpel und eine treue Freundin.«
»Das klingt zu schön, um wahr zu sein.«
»Du singst leidenschaftlich gern und leidenschaftlich falsch«, fügte er lachend hinzu.
»Ist das mein schlimmster Fehler?«
»Wenn du wütend bist, fliegen die Fetzen.«
»Ich bin unbeherrscht?«
Er grinste leicht verlegen. »Gelinde gesagt, ja.«
Sie brauchte einen Moment, um das zu verdauen, dann fragte sie: »Was ist meine Lieblingsfarbe? Was esse ich am liebsten?«
»Blau«, antwortete er, ohne zu zögern. »Alles Italienische.«
»Bin ich noch berufstätig? Du sagtest doch, ich hätte bei Harvard Press gearbeitet?« Die Fragen kamen jetzt rascher, eine schien die andere zu jagen.
»Du hast nach Emilys Geburt zu arbeiten aufgehört. Als Emily in den Kindergarten kam, konnte ich dich überreden, zwei Tage in der Woche bei mir in der Praxis zu arbeiten.«
»Bei dir in der Praxis?«
»Ja, dienstags und donnerstags. Du erledigst die Telefonate und die Korrespondenz und machst mir die Ablage.«
»Das klingt ja sehr anspruchsvoll.«
Sie hatte nicht sarkastisch sein wollen und war froh, daß er sich an ihrer Bemerkung nicht störte.
»Du hast die Arbeit hauptsächlich übernommen, damit wir beide mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Ich habe eine sehr große Praxis und kann nicht jeden Tag pünktlich um fünf Schluß machen. Wir wollten nicht riskieren, daß wir uns auseinanderleben. Auf die Weise wußten wir, daß wir zwei Tage in der Woche auf jeden Fall zusammen sein können. An den anderen Tagen operiere ich.«
»Das klingt ja nach einer perfekten Ehe.««
»Na ja, nichts im Leben ist perfekt.« Er machte eine kleine Pause. »Wir hatten unsere Differenzen
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