Lauf, Jane, Lauf!
festzustellen, daß du dich in mancher Hinsicht überhaupt nicht verändert hast.«
»Wie meinst du das?«
»Genau das hätte die alte Jane gesagt.«
»Die alte Jane«, wiederholte sie nachdenklich und lachte nervös, weil sie nicht recht wußte, wie sie reagieren sollte. »Erzähl mir von deinen Eltern«, sagte sie.
»Mein Vater war ein brillanter Wissenschaftler.« Jetzt lachte er. »Gibt es überhaupt andere? Wie dem auch sei, er ist jetzt im Ruhestand, aber als ich noch ein Kind war, war er von seiner Arbeit völlig absorbiert. Ich kann mich nicht erinnern, daß er viel mit uns zusammen war. Dafür war meine Mutter eine richtige Glucke.« Einen Moment lang schien er sich in Erinnerungen zu verlieren. »Mein Vater sagte oft, wenn er meiner Mutter freie Hand gelassen hätte, hätte sie mich wahrscheinlich bis zu meinem fünften Lebensjahr gestillt.«
»Aber sie hat es nicht getan.«
»Nicht daß ich wüßte. Aber zusammen gebadet haben wir - bestimmt bis ich in der zweiten Grundschulklasse war.« Er grinste breit. »Daran erinnere ich mich genau.«
»Du solltest wahrscheinlich so lange wie möglich ihr Baby bleiben«, meinte Jane. »Wegen deines Bruders.«
»Ja, vermutlich hat uns sein Schicksal alle weit mehr beeinflußt,
als uns klar war. Ich meine, ganz zweifellos ist mein Bruder der Grund dafür, daß ich Medizin studiert und mich dann auf Kinderchirurgie spezialisiert habe. Ich habe in meiner Praxis fast nur mit Kindern zu tun, die an schweren Behinderungen oder Mißbildungen leiden. - Kurz und gut«, fuhr er nach einer langen Pause fort, »ich wurde in Harvard angenommen und war überglücklich, weil das bedeutete, daß ich nicht in einen anderen Staat mußte. Harvard war schon teuer genug, obwohl ich sogar ein ganz gutes Stipendium bekam.« Unerwartet lachte er, sah einen Moment lang aus wie ein Teenager. »Hey, das ist richtig toll. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr über das ganze Zeug gesprochen. Es ist, als fingen wir ganz von vorn an.«
»Erzähl mir von unserer ersten Verabredung. Wie haben wir uns kennengelernt?«
»Wir wurden verkuppelt.«
»Und von wem?«
»Ich nehme an, von gemeinsamen Freunden. Ja, stimmt, es war Marci Tanner. Die gute alte Marci. Würde mich interessieren, was aus ihr geworden ist. Als wir das letzte Mal von ihr hörten, hatte sie gerade das dritte Mal geheiratet und lebte irgendwo in Südamerika.«
»Und war es Liebe auf den ersten Blick?«
»Von wegen! Wir haben einander gehaßt! Gehaßt, verabscheut, verachtet.«
Sie wollte sich von ihrer Überraschung nichts anmerken lassen, aber es gelang ihr nicht. Instinktiv rückte sie näher zum Fenster, als wolle sie zu einem Mann, den sie damals auf den ersten Blick gehaßt, verabscheut und verachtet hatte, mehr Abstand gewinnen.
»Mir hatte gerade irgendein Mädchen das Herz gebrochen«, erklärte er, »und du hattest die Nase voll von überheblichen Medizinstudenten. Wir waren beide sehr mißtrauisch. Wir gingen auf eine Party. Ich weiß sogar noch, was du anhattest. Es war ein
graues Kleid mit einer kleinen rosa Schleife am Kragen. Ich fand dich hinreißend. Aber da mir gerade erst ein anderes Mädchen, das ich auch hinreißend gefunden hatte, schnöde den Laufpaß gegeben hatte, wollte ich mich auf keinen Fall gleich in die nächste Romanze stürzen. Ich nehme an, ich habe das deutlich durchblicken lassen. >Hallo, schönes Kind, ich bin Dr. Michael Whittaker und habe nicht die geringste Lust auf eine feste Beziehung. Du kannst mich von ferne bewundern, aber mach dir ja keine Hoffnungen...‹«
Sie lachte. »Irgendwie kann ich mir das bei dir nicht vorstellen.« Vom Klang seiner Stimme eingelullt, entspannte sie sich und rückte wieder näher an ihn heran.
»Über nichts konnten wir uns einig werden. Ich mochte Actionfilme; du gingst nur in ausländische Filme. Ich lebte von Bier und Salamibroten; du hattest lieber Wein und Käse. Du schwärmtest für klassische Musik; ich stand auf Rhythm and Blues . Du konntest stundenlang über Literatur reden, das einzige Buch, das ich kannte, war Grays >Anatomie<. Ich interessierte mich für Sport, und du konntest nicht mal einen Football von einem Basketball unterscheiden.«
»Aber irgendwie scheinen wir doch zu einer Einigung gekommen zu sein.«
»Es dauerte eine Weile. An dem ersten Abend damals haben wir beide nur darauf gelauert, daß der andere kräftig ins Fettnäpfchen tritt, damit wir dann Grund gehabt hätten, schleunigst das Weite zu suchen. Aber das passierte
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