Lauf, Jane, Lauf!
sehen, sobald sie die Augen öffnete. War sie enttäuscht? War das der Grund ihrer Niedergeschlagenheit?
Vielleicht war er unten und machte das Frühstück. Vielleicht verstand er sich aufs Kaffeekochen genauso gut wie aufs Teekochen. Vielleicht briet er Schinken und Eier, um sie ihr ans Bett zu bringen. Sofort hob sich ihre Stimmung, verdüsterte sich aber gleich wieder, als ihr klar wurde, wie abhängig sie sich bereits fühlte.
Sie betätigte die Toilettenspülung. Dieses Geräusch würde ihn doch bestimmt auf sie aufmerksam machen. Dann wusch sie sich Gesicht und Hände und spülte ihre Augen mit kaltem Wasser. Aber es war, als wären sie mit einem unsichtbaren Film überzogen. Sie konnte sie noch so oft mit dem Waschlappen ausreiben, die Nebelschleier ließen sich nicht wegwaschen.
Sie stellte mit Überraschung fest, daß sie trotz allem gar nicht so schlecht aussah. Das Haar fiel ihr glatt und glänzend auf die Schultern; ihr Teint war klar, wenn auch ein wenig bleich. Selbst die Schwellungen unter den Augen schienen geschrumpft zu sein. Sie putzte sich die Zähne und überlegte, ob sie sich ankleiden sollte. Aber sie war zu müde, um sich auch nur das Nachthemd über den Kopf zu ziehen; außerdem spielte es ja sowieso keine Rolle. Sie hatte nicht die Absicht auszugehen.
Mit einem energischen Ruck warf sie den Kopf zurück, um sich aus der Lethargie zu reißen, die ihren Körper gefangenhielt, aber durch die heftige Bewegung wurde ihr nur von neuem schwindlig. Mit Müh und Not schaffte sie es bis zum Bett und ließ sich darauf niederfallen.
»Ich bleib einfach noch ein paar Minuten liegen und ruh mich aus«, flüsterte sie in das lachsrosa Laken, das letzte, was sie sah, ehe sie in Bewußtlosigkeit versank.
Als sie die Augen wieder öffnete, war fast eine Stunde vergangen. »Du meine Güte«, murmelte sie, straffte die Schultern und stemmte sich in die Höhe. Als sie diesmal aufstand, blieb der Boden unter ihren Füßen ruhig. Die Schwindelgefühle waren weg,
nur eine vage Niedergeschlagenheit war geblieben. Sie sagte sich, das sei immerhin besser als Angst und Schrecken. »Du machst Fortschritte«, sagte sie laut und sah ihr Spiegelbild lächeln.
In ungewollter Nachahmung Michaels strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und hielt abrupt inne, als sie sich an die frische Narbe erinnerte, die sie am vergangenen Abend an seinem Kopf gesehen hatte. Was hatte die Narbe zu bedeuten? Hatte sie überhaupt Bedeutung?
Vielleicht hatte er sich einer kleinen Operation unterziehen müssen. Vielleicht war er gestürzt und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Das Bild ihres blutverschmierten Kleides drängte sich ihr auf. Kopfwunden pflegten stark zu bluten. War es möglich, daß das Blut auf ihrem Kleid Michaels Blut war?
Sie verwarf den Gedanken so rasch, wie er gekommen war. Wenn das zuträfe, hätte Michael gewiß etwas gesagt, auch wenn er aus Angst, sie in neue Unruhe zu stürzen, mit allen Auskünften sehr zurückhaltend gewesen war.
Vielleicht hatte er gar keine Narbe. Vielleicht war es nur ihre Einbildung gewesen. Sie war fast hysterisch vor Angst aus ihrem Alptraum erwacht; sie war verwirrt, und es war dunkel gewesen. Wenn ihre Phantasie Wiesen voller Giftschlangen hervorbringen konnte, warum dann nicht auch eine Narbe, die gar nicht vorhanden war?
Wie auch immer, es war ein leichtes, die Wahrheit herauszufinden. Sie brauchte sich Michael nur genau anzusehen, und wenn die Narbe wirklich da war, würde sie ihn fragen, wie er zu ihr gekommen war. Ganz einfach. Das Leben war wirklich sehr einfach, wenn man erst einmal auf den Dreh gekommen war.
Sie ging zu den Fenstern hinüber, klappte die Läden auf, starrte in den Garten hinunter und fragte sich, wo Michael so lange blieb. Schlief er etwa noch?
Sie hörte ihren Magen knurren und lachte, froh, daß manches
sich niemals änderte. Nun, wenn Michael ihr das Frühstück nicht ans Bett brachte, mußte sie eben in die Küche hinuntergehen und es sich selbst machen. Vielleicht sogar ihn mit einem Frühstück im Bett überraschen.
Sie wandte sich zur Tür und schrie auf.
Die Frau, die dort stand, war jung und tief gebräunt. Sie war mittelgroß, vielleicht einen Meter fünfundsechzig, mit schwarzem Haar, das aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem langen Zopf geflochten war. Sie war schlank, obwohl ihre Beine unter dem kurzen dunklen Jeansrock stämmig wirkten.
»Oh, das tut mir leid.«Ihre Stimme war erstaunlich kräftig. »Ich wollte Sie
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