Lauf, Jane, Lauf!
dir wünschen kannst, was dein Herz begehrt, und du wünschst dir dünne Oberschenkel! In der Welt verhungern die Menschen, überall wüten Krankheit und Krieg, und du wünschst dir dünne Oberschenkel!< Der Frau ist das natürlich ziemlich peinlich, und sie überlegt noch mal eine Weile und sagt schließlich: >Also gut. Dünne Oberschenkel für alle!<«
Carole brach in schallendes Gelächter aus. Jane brachte nur ein kurzes, etwas künstliches Lachen zustande.
»Klar, du hast ja keine Ahnung«, sagte Carole. »Du hast Oberschenkel wie Streichhölzer. Mein Vater hat schon recht. Du bist zu mager. Komm, iß ein Plätzchen.«
Jane wollte sich gerade ein Keks nehmen, als sie lautes Klopfen an der Haustür hörte.
»Carole!« rief der alte Mann von oben. »Es ist jemand an der Tür.«
Carole war schon aufgesprungen. »Das ist entweder Andrew, der was vergessen hat, oder Celine.«
Jane wußte noch ehe Carole die Haustür erreichte, daß es weder Andrew noch Celine war.
»Ist Jane hier?« hörte sie Paula in erregtem Ton fragen.
»Ja«, antwortete Carole ruhig. »Wir sitzen gerade beim Kaffee. Möchten Sie auch eine Tasse?«
»Ich war schon ganz außer mir vor Sorge«, rief Paula, die sofort in die Küche rannte. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie weggehen?« fragte sie Jane atemlos.
»Ich dachte, das wäre nicht nötig«, log Jane. »Sie waren beschäftigt. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Ich bin zu Tode erschrocken, als ich in Ihr Zimmer kam und Sie nicht da waren. Ich habe das ganze Haus von oben bis unten durchsucht, den Garten, die Garage. Ich bin zweimal die Straße rauf- und runtergelaufen, ehe mir einfiel, hier nach Ihnen zu fragen. Ich dachte, Sie wären vielleicht wieder fortgelaufen.« Sie war den Tränen nahe.
»Es tut mir leid, daß ich Sie so erschreckt habe«, sagte Jane aufrichtig. Es war wirklich rücksichtslos von ihr gewesen, einfach aus dem Haus zu gehen, ohne Paula Bescheid zu sagen. Warum hatte sie das getan? »Ich wollte nur eine Weile hinaus.«
»Natürlich, das verstehe ich«, sagte Paula, und Jane war überrascht. Sie hatte nicht erwartet, daß Paula sich zu Mitgefühl durchringen könnte. »Aber sagen Sie mir das nächste Mal bitte vorher Bescheid.«
»In Ordnung.«
»Aber jetzt«, fuhr Paula mit einem Blick auf ihre Uhr fort, »sollten wir wirklich nach Hause gehen. Sie müssen noch ein Stündchen schlafen, ehe Ihr Mann heimkommt, und...«
»Ich weiß«, unterbrach Jane. »Es ist Zeit für meine Tabletten.«
12
Sie erwachte mit Kopfschmerzen. Der dumpfe Schmerz wurzelte in ihrem Nacken und verästelte sich durch ihren ganzen Kopf, einem winterlichen Baum gleich, dessen kahle Äste und Zweige jeden feinsten Nerv erreichten. Sogar die Zähne taten ihr weh.
Ein ganz normaler Tag im Paradies, dachte sie und versuchte, die Beine aus dem Bett zu schwingen. Sie waren so schwer, als
hätte jemand, während sie schlief, Bleigewichte an ihnen befestigt. Sie überprüfte den Eindruck. Ihre nackten Zehen krümmten sich unbeschwert unterhalb des weißen Baumwollnachthemds. Keine Bleigewichte, soweit sie feststellen konnte. Sie stand auf und lehnte sich haltsuchend an den Bettpfosten. Nur unsichtbare Bleigewichte in ihrem Kopf.
Sie seufzte. Am liebsten wäre sie sofort wieder ins Bett gekrochen. Wozu überhaupt aufstehen? Sie fühlte sich erbärmlich und würde sich mit fortschreitender Tageszeit nur noch erbärmlicher fühlen. Gleich würde Paula erscheinen, um nach ihr zu sehen, ihr weitere Tabletten zu verabreichen, ihr das Frühstück zu machen. Dann würde sie wieder schlafen, und wenn sie nicht schlief, würde sie sich wieder die Fotoalben vornehmen und versuchen, sich zu erinnern, wer all diese fremden Menschen waren, obwohl Michael die Alben mindestens ein dutzendmal mit ihr durchgeblättert und über jedes Foto mit ihr gesprochen hatte, bis sie den Namen jeder abgebildeten Person auswendig wußte. Zweifellos hätte sie jeden einzelnen von ihnen erkannt, wäre sie ihnen auf der Straße begegnet; das allerdings war unwahrscheinlich, da sie nur höchst selten außer Haus ging.
Sie blickte zur Schlafzimmertür und wartete darauf, daß ihre Gefängniswärterin erscheinen würde, aber es kam niemand. »Du bist ungerecht«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild. »Paula ist nicht deine Gefängniswärterin. Du selbst bist es.«
Sie starrte die Fremde im Spiegel an, sah zu, wie sie widerwillig das weiße Nachthemd auszog. »Eins steht jedenfalls fest«, sagte die Fremde zu
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