Lauf, Jane, Lauf!
ihr, »Geschmack hast du überhaupt keinen. Der Fetzen da ist ungefähr so sexy wie eine Zwangsjacke.« Die im übrigen sowieso das angemessenere Kleidungsstück für mich wäre, fügte sie in Gedanken hinzu.
Warum ziehst du das Ding dann immer wieder an? fragte ihr Blick das Spiegelbild.
Weil es jedesmal, wenn ich es in den Wäschekorb werfe,
prompt gewaschen wird und am Abend wieder frisch und jungfräulich auf meinem Bett ausgebreitet liegt. Und es ist einfacher, es brav anzuziehen, als Widerstand zu leisten. Und es ist ein sicherer Schutz, gestand sie sich ein. Sie brauchte keine Angst zu haben, daß es bei Michael Regungen hervorrufen würde, mit denen sie noch gar nicht umgehen konnte. Dieser Fummel war so brav, daß sie darin wahrscheinlich nicht mal Casanova höchstpersönlich angemacht hätte.
Sie strich mit beiden Händen über ihren Körper, über die Schwellung ihrer Brüste, die weiche Rundung ihres Bauches, den sanften Hügel ihrer Scham, und verspürte ein sachtes Kribbeln. Wie oft hatten sie und Michael miteinander geschlafen? Wie war er als Liebhaber?
Sie ließ die Arme sinken. Was sollten diese Fragen, die im Moment überhaupt nicht aktuell waren? Wozu diese Gefühle entfachen, wenn sie noch gar nicht bereit war, ihnen nachzugeben?
Oder war sie vielleicht doch bereit dazu? War sie bereit, mit einem Mann zu schlafen, den sie nicht kannte, nur weil sie mit ihm verheiratet war?
»Na, was ist?« fragte sie die Frau im Spiegel.
Die zuckte mit den Schultern.
»Flittchen«, sagte Jane und lachte. Beinahe schuldbewußt drehte sie sich zur Tür in der Erwartung, Paulas mißbilligendes Gesicht zu sehen.
Aber nein, heute war ja Samstag. An den Wochenenden hatte Paula frei. Sie und Michael würden allein sein. Zeit genug, diesen heimlichen Wünschen nachzugeben, wenn sie wollte. War es wirklich das, was sie wollte? Sollte es so einfach sein?
Vielleicht war die erzwungene Enthaltsamkeit der Grund ihrer Kopfschmerzen; der Grund ihrer fortdauernden Depression. Vielleicht war sie einfach nicht gewöhnt, solange ohne Sex auszukommen.
Was konnte es schon schaden, mit dem Mann ins Bett zu gehen?
Sie fand ihn ungeheuer anziehend. Und er war schließlich ihr Ehemann. Sie hatte elf Jahre lang mit ihm geschlafen. Es war ja nicht so, als seien sie einander gerade erst vorgestellt worden. Es war nicht so, als hätte sie ihn gerade erst kennengelernt und eingewilligt, mit zu ihm nach Hause zu kommen.
Aber doch, genauso war es.
Sie kannte ihn heute nicht besser als vor einer Woche. Sie wußte einiges über ihn, gewiß. Sie wußte Einzelheiten aus seinem Leben, aus ihrem gemeinsamen Leben. Sie wußte, daß er liebevoll und einfühlsam und geduldig war, einfach alles, was man sich von einem Ehemann wünschen konnte.
Vielleicht brauchte sie gar nicht mehr zu wissen.
Was war denn schon dabei, wenn sie sich nicht an ihn erinnern konnte? War das denn unbedingt nötig? Sie kannte ihn jetzt seit etwas mehr als einer Woche. Es gab genug Männer und Frauen, die schon nach viel kürzerer Zeit miteinander ins Bett gingen. Und sie mochte ihn. Selbst in ihrem Zustand der Verwirrung und Depression fand sie ihn attraktiv. Sie konnte verstehen, daß sie sich vor elf Jahren in ihn verliebt hatte. Was konnte also schon dabei sein, wenn sie ihn in ihr Bett lockte? Darauf wartete er doch sicherlich nur, auch wenn er niemals ein Wort gesagt hatte. Sie wünschten es beide. Und sie waren miteinander verheiratet. Wem würden sie damit schaden, wenn sie miteinander schliefen? Vielleicht würde es ihr sogar helfen, sich zu erinnern, wenn sie mit ihm schlief. Und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, würde es vielleicht wenigstens bewirken, daß sie sich besser fühlte. Und was gab es daran auszusetzen?
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie leise vor sich hin. Sie zog einen der Schränke auf und kramte in der obersten Schublade nach dem schwarzen Strumpfhalter. Sie hielt ihn sich vor den Körper und sah mit Befriedigung den schockierten Ausdruck im Gesicht der Frau im Spiegel. »Das Ding würde ihn wahrscheinlich ganz schön heiß machen.«
Und willst du das? fragte ihr Spiegelbild lautlos. Willst du ihn heiß machen? Überleg es dir lieber genau, ehe du so etwas anzettelst.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich will«, sagte Jane zornig. Sie legte den Strumpfhalter wieder in die Schublade und stieß sie heftig zu. »Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er voller Wackersteine.«
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