Lauf, Jane, Lauf!
machen.«
»Aber ich bin ständig entsetzlich müde und deprimiert...«
»Das ist in einer solchen Situation nichts Ungewöhnliches. Je länger dieser Zustand andauert, desto mehr drückt das auf Ihre Stimmung. Das ist ganz normal. Darum ist ja das Ativan so wichtig. Und was Ihre Müdigkeit angeht, nun, ich glaube, Ihr Körper versucht, Ihnen ein Zeichen zu geben. Daß er Schlaf braucht nämlich. Kämpfen Sie nicht dagegen an, Jane. Hören Sie auf das, was Ihr Körper Ihnen sagt.«
»Sie glauben also nicht, daß die Depressionen und die Müdigkeit von dem Mittel kommen?« - Warum fragte sie ihn das? Hatte er ihr nicht eben erklärt, daß Ativan ein sehr mildes Beruhigungsmittel war? Daß er es für unerläßlich für ihre Genesung hielt?
»Ativan enthält nichts, was Depressionen verursachen könnte. Möglich, daß es Sie ein bißchen müde macht, denn Sie sind ja leicht untergewichtig, aber das müßte aufhören, wenn Ihr Körper sich daran gewöhnt hat.«
»Aber ich fühle mich irgendwie so ohnmächtig, als hätte ich überhaupt keine Kontrolle...« Sie brach ab, als sie Michaels Schritte auf der Treppe hörte. »Aber ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte sie hastig. »Ich habe Sie schon lange genug gestört.«
»Ich bin froh, daß ich da war, als Sie anriefen. Ach, Jane, wenn Ihr Mann gerade in der Nähe ist, würde ich gern einen Moment mit ihm sprechen.«
Michael stand an der offenen Tür.
»Er ist hier«, sagte sie ins Telefon, hielt ihrem Mann dann den Hörer hin. »Dr. Meloff«, sagte sie mit kopfendem Herzen. »Er möchte dich sprechen.«
Michael machte ein angemessen verwundertes Gesicht, als er ihr den Hörer aus der Hand nahm. Er sieht so verwirrt aus, wie ich bin, dachte Jane und fragte sich wieder, was sie veranlaßt hatte, Dr. Meloff anzurufen. Hatte sie allen Ernstes den Verdacht gehabt, ihr Mann verabreiche ihr Drogen, die sie gar nicht brauchte? Wieso? Dieser Mann war nur gut zu ihr gewesen. Er war so geduldig und hilfsbereit. War sie vielleicht gegen teilnahmsvolle Männer allergisch? Lag da ihr Problem? Sie hatte es nicht verkraftet, glücklich verheiratet zu sein, darum hatte sie sich in eine Art vorübergehenden Wahnsinn geflüchtet, und jetzt konnte sie seine unermüdliche Liebe und Zuwendung nicht verkraften und mußte sich deshalb einreden, daß er ihr übelwollte. Das ergab wirklich Sinn.
Aber wann hatte das letzte Mal etwas einen Sinn ergeben? Welcher Sinn war darin zu sehen, daß sie sich plötzlich mitten auf den Straßen Bostons wiedergefunden hatte, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wer sie war? Daß sie die Taschen voller Geld und das Kleid voller Blut gehabt hatte? Daß sie sich weder an die Geburt ihrer Tochter noch an den Tod ihrer Mutter erinnern konnte? Daß sie so mißtrauisch und ablehnend gegenüber den Menschen war, die ihr doch nur helfen wollten? Daß das mildeste Beruhigungsmittel sie in ein Zombie verwandeln konnte? Das sie sich in ihrem eigenen Haus wie eine Gefangene vorkam?
Welcher Sinn war darin zu sehen, daß ihr Rücken schmerzte und ihr Kopf dröhnte und der Hals ihr so weh tat, daß sie kaum schlucken konnte? Daß sie sich klar und deutlich daran erinnerte, ihr Adreßbuch in die Schublade ihres Nachttischs gelegt zu haben, und es jetzt nicht mehr finden konnte? Ergab irgend etwas von alledem einen Sinn? Wie konnte ein Mensch, der sich nicht
einmal seines eigenen Namens erinnerte, überhaupt behaupten, sich an irgend etwas klar und deutlich zu erinnern?
»Wo ist mein Adreßbuch?« fragte sie, nachdem Michael aufgelegt hatte. Sie sah ihm an, daß er verletzt war, und versuchte, seinem Blick auszuweichen. Er versteht nicht, warum ich Dr. Meloff angerufen habe. Und was kann ich ihm sagen, wenn ich es doch selbst nicht verstehe?
»Es lag hier.« Sie zog die obere Schublade des Nachttischs auf. »Und jetzt ist es weg.«
»Ich weiß nicht, wo es ist«, sagte er einfach.
»Es lag hier, als ich vom Krankenhaus nach Hause kam.«
Warum insistierte sie? Warum machte sie aus einer Maus einen Elefanten? Weil Verteidigung der beste Angriff war. Weil sie so ihren Anruf bei Dr. Meloff nicht erklären mußte.
»Dann muß es auch dort sein«, sagte er.
»Es ist aber nicht da. Schau doch selbst nach.«
»Ich brauche nicht nachzuschauen. Wenn du mir sagst, daß es nicht da ist, glaube ich dir.«
Wenn du mir sagen würdest, daß Dr. Meloff mir ein Medikament verschrieben hat, würde es mir nicht im Traum einfallen, dir hinterherzuschnüffeln, übersetzte
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