Lauf, Jane, Lauf!
verstehen.
Sie weigerte sich, ihre Tabletten zu nehmen, und er insistierte nicht. »Das lasse ich dich in Zukunft auch selbst entscheiden«, sagte er und bat sie nur darum, Paula das Abendessen zubereiten und servieren zu lassen.
Dagegen hatte Jane nichts einzuwenden. Sie hatte sich vorgenommen, nur das zu essen, was alle anderen aßen, um auf diese Weise sicherzugehen, daß ihrem Essen nichts beigemischt werden konnte. Sie mußte wach sein; sie mußte unbedingt hellwach und klar sein, auch wenn sie noch gar nicht genau wußte, was sie Sarah (vorausgesetzt, es war wirklich Sarah, die zum Abendessen kam) sagen wollte.
Jane schraubte die unangebrochene Flasche auf und schenkte sich ein großes Glas Ginger Ale ein. Sie trank einen kleinen Schluck und machte es sich wieder in ihrem Sessel am Kamin gemütlich, während Michael sich einen Gin Tonic mischte. Er sah sie an und lächelte, und sie erwiderte das Lächeln, wenn auch mit einer gewissen Anstrengung. Tatsächlich fühlte sie sich weder besonders kräftig noch besonders wohl. Nur fest entschlossen, dachte sie und preßte die bebenden Lippen aufeinander.
»Alles in Ordnung, Schatz?«
»Bestens.«
»Sie kommen frühestens in zehn Minuten. Du kannst dich oben noch ein bißchen hinlegen...«
»Nein, nein. Nicht nötig.«
»Du siehst gut aus«, sagte er, und es klang aufrichtig.
Dennoch zweifelte sie an der Wahrheit seiner Worte, auch wenn sie sich alle Mühe gegeben hatte, sich für diesen Abend herzurichten. Zum ersten Mal seit ihrer Heimkehr hatte sie sich geschminkt. Sie hatte sich von Michael die Hand führen lassen, als diese allzu heftig zitterte, und hatte in dem Bemühen, ihrem Gesicht Farbe zu geben, vielleicht eine Spur zuviel Rouge aufgetragen. Michael hatte ihr sogar das Haar gekämmt und es mit einer rosaroten Schleife Emilys zum jungmädchenhaften Pferdeschwanz hochgebunden. Die Schleife paßte zu dem weichen rosafarbenen Pullover, den er für sie ausgewählt hatte. Warum war er so fürsorglich und hilfsbereit? Wieso war er so verdammt nett zu ihr, wo sie doch so verdammt schwierig war?
Warum hast du die Ärzte und die Polizei belogen? hätte sie am liebsten gefragt und erkannte gleichzeitig, daß sie noch immer am liebsten glauben wollte, er hätte gar nicht gelogen, könne ihr vielmehr auf alle ihre Fragen die richtige Antwort geben, alle Zweifel klären und alles wiedergutmachen. Aber war das überhaupt möglich? Bitte erkläre mir, warum du lügst, Michael. Sag mir, daß alle meine Verdächtigungen grundlos sind, daß alles seine Richtigkeit hat. Schaff die Lügen aus der Welt.
Sie konnte ihn nicht fragen. Sie konnte es nicht riskieren, ihn zornig zu machen. Jedenfalls nicht jetzt, wo ihre Freunde praktisch schon auf der Schwelle standen. Mit einer einzigen Injektion hätte er sie zum hilflosen Säugling reduzieren können.
»Bist du sicher, daß dir das alles nicht zuviel wird?« fragte er.
Sie nickte stumm. Sie begriff plötzlich, daß ihr Entschluß, ihm keine Fragen zu stellen, weniger der Furcht entsprang, er könnte ihr keine plausiblen Antworten geben, als vielmehr der Befürchtung, daß er es vielleicht könnte. Denn wenn er ihr plausible Erklärungen geben konnte, dann bedeutetedas, daß sie tatsächlich in einer schweren psychischen Krise steckte, daß ihre eigensinnige Weigerung, ihre Tabletten zu nehmen, nur den Zusammenbruch förderte, daß sie allein für ihr Dilemma verantwortlich war, daß es vielleicht endlos andauern und sie sich den Rest ihres Lebens so schrecklich fühlen würde; daß sie ihr wahres Selbst irgendwo unterwegs verloren hatte und mit diesem hier heimgekommen war, das nun bleiben würde. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrem Glas und überlegte, welche Alternative sie bevorzugte: Entweder war sie eine schwerkranke Frau, und ihr Mann wollte nichts anderes als ihr helfen; oder ihr Mann hatte seine eigenen finsteren Gründe, sie zur Schwerkranken zu machen.
Wird die Teilnehmerin sich für Alternative eins oder Alternative zwei entscheiden? Sehen Sie jetzt eine neue Folge von Die jungen und die Psychotischen.
Es läutete.
»Ich geh hin«, sagte Jane laut und bestimmt, um Paula aufzuhalten, die schon auf dem Weg zur Tür war.
»Lassen Sie nur«, beschwichtigte Michael die junge Frau, die sich augenblicklich in die Küche zurückzog.
Janes Hände zitterten. Ginger Ale schwappte aus ihrem Glas und tropfte auf den Teppich. Vorsichtig stellte sie das Glas auf dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel nieder, atmete
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