Lauf, Jane, Lauf!
mehr gegessen und war wahrscheinlich nur vor Hunger so schwach. Wenn sie erst etwas im Magen hatte, würde es ihr bestimmt gleich besser gehen.
»Wieviel hast du abgenommen?« fragte Sarah, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
»Habe ich abgenommen?« fragte Jane zurück und war ausnahmsweise froh, als sie Paula ins Zimmer kommen sah.
»Das Essen ist fertig«, verkündete Paula.
Jane sprang auf und mußte sich an Sarah festhalten, um nicht zu fallen.
»Das ist doch idiotisch, Jane. Wir sollten besser gehen. Du gehörst ins Bett.«
»Nein, nein, es ist nichts«, behauptete Jane eigensinnig und ließ sich von Peter ins Eßzimmer führen. »Es ist wahrscheinlich nur die Zeitverschiebung.«
»Michael, was ist wirklich los?« hörte sie Sarah mit gesenkter Stimme fragen.
»Kommt, setzt euch!« rief Jane, die Michael keine Gelegenheit lassen wollte, auf Sarahs Frage zu antworten. Sie nahm am Kopfende des Tisches Platz. Michael und Sarah folgten.
»Sieht ja köstlich aus«, bemerkte Sarah, während sie die Speisen begutachtete, die Paula auftrug. Ihre Munterkeit wirkte ziemlich gekünstelt.
»Bedient euch!« Jane beobachtete aufmerksam Michael und ihre Gäste, die sich von den verschiedenen Speisen nahmen. Nachdem auch sie sich bedient hatte, wartete sie, bis alle von Paulas Hühnchen gekostet hatten, ehe sie selbst die Gabel zum Mund führte.
»Das schmeckt wirklich hervorragend«, stellte Sarah fest. »Diese Frau ist eine Perle. Die dürft ihr nicht wieder weglassen.«
Jane, die wußte, daß alle sie beobachteten, zwang sich, das Essen in den Mund zu schieben. Sie kaute langsam und bedächtig, konzentrierte sich auf jede Bewegung, schob einen Bissen mit dem nächsten hinunter. Wenn das Hühnchen sich geschmacklich von den grünen Bohnen und dem Wildreis unterschied, so nahm Jane es nicht wahr. Die Aromen vermischten sich auf ihrer Zunge miteinander. Sie konnte nur hoffen, daß sie das Essen bei sich behalten würde, bis sie vom Tisch aufstanden.
»Wo hast du denn deinen Ehering gelassen?« fragte Sarah in bemüht beiläufigem Ton.
Jane blickte zum schmucklosen Ringfinger ihrer linken Hand hinunter. Sie konnte sich nicht an die Erklärung erinnern, die Michael ihr gegeben hatte.
»Ich kaufe Jane einen neuen. Ich hab mir gedacht, ein paar Brillis würden ihr gut stehen. Was meinst du?«
»Ich finde, du bist ein netter Mann«, gab Sarah zurück und tätschelte seine Hand.
»Du hast meine Frau noch gar nicht nach Hitler gefragt«, bemerkte Peter, dem das Thema Brillanten nicht behagte.
»Was?« Jane wollte ihre Gabel quer über den Tellerrand legen, aber sie traf den Teller nicht, und die Gabel fiel klirrend zu Boden. Sie ignorierte es und konzentrierte sich statt dessen auf Peter. Hatte er wirklich von Hitler gesprochen?
»Unser Nachbar. Der Faschist«, erklärte Sarah ungeduldig. »Der, der jedesmal, wenn er mich sieht, sofort anfängt, im Stechschritt zu marschieren. Der Gestapomensch - ich hab dir doch am Telefon von ihm erzählt. Du wärst stolz auf mich gewesen. Diesmal hab ich’s ihm echt gegeben.«
»Sie hat ihn höflich aufgefordert, in Zukunft doch bitte seinen Müll nicht mehr vor unserem Haus zu deponieren.«
»Ist ja gar nicht wahr! Ich hab gesagt, wenn er noch einmal seinen Müll vor unserem Haus ablädt, kann er ihn am nächsten Morgen in seinem Vorgarten zusammenklauben.«
»Bravo!« sagte Michael.
»Das ist zwar nicht ganz Janes Kaliber...«
»Was soll das heißeri?« Jane hielt sich krampfhaft an der Tischkante fest, als sie plötzlich Sarah in doppelter Ausführung vor sich sah.
»Du hättest ihn ein Nazi-Arschloch genannt und ihm den Mülleimer über den Kopf gekippt«, erklärte Peter, und Sarah und Michael stimmten ihm lachend zu.
Jane hörte das Gelächter so gedämpft, als befände sie selbst sich unter Wasser und die anderen an einem fernen Strand. Sie wollte zu ihnen hinschwimmen, sich nach oben durchkämpfen, an die Wasseroberfläche, um ihre Lungen mit Luft zu füllen, aber ihre Anstrengungen zogen sie nur tiefer in den Abgrund hinunter. Sie war im Begriff zu ertrinken, und keiner merkte es. Keiner konnte sie retten.
Wieso ging es ihr so schlecht? Sie hatte nur gegessen, was alle anderen auch gegessen hatten. Sie hatte die Flasche Ginger Ale eigenhändig aufgemacht und sich selbst eingeschenkt. Sie hatte das Glas nur einmal aus der Hand gegeben, als Peter ihr neu eingegossen hatte, und selbst da hatte sie genau aufgepaßt.
Nein, falsch! Sie hatte das Glas
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