Lauf, so schnell du kannst
beeinflussen. Dare protestierte nicht gegen ihre Wahl, sondern nahm sich einfach das andere Buch und stellte die Laterne so hin, dass sie beide genug Licht hatten. Dann lehnte er sich zurück und streckte die Beine aus.
Der Tag verging langsam und träge. Draußen herrschte kalter, grauer Regen, drinnen Kameradschaft und Gelächter und eine unterschwellige sexuelle Anziehungskraft. Nachdem sie eine Weile gelesen hatte, wurde sie müde, also streckte sie sich aus und machte ein Nickerchen; sie fühlte sich entspannt und sicher. Als sie aufwachte, aßen sie jeder eine Suppe und einen Proteinriegel zu Mittag.
Er ging ohne Erklärung die Leiter hinunter und in den Regen hinaus, dann kam er wieder nach oben und hielt vorsichtig den Eimer, der zu drei Vierteln mit Wasser gefüllt war.
»Es ist vielleicht schon zu spät, aber wenn du den Fuß in diesen Eimer bekommst, könnte das kalte Wasser die Schwellung und die Schmerzen in deinem Knöchel ein wenig mildern.«
Angie wickelte den Verband um ihren Knöchel ab, krempelte den Saum ihrer Jeans hoch und tauchte den Fuß in das Wasser. Sie biss die Zähne zusammen, als sie ihn tiefer in den Eimer sinken ließ; das Wasser war zwar nicht eisig, aber fast. Weil der Eimer unten schmaler wurde, konnte sie den Fuß nicht einfach hineinstellen, darum bog sie die Zehen vorsichtig und schaffte es so, den Knöchel unterzutauchen. »Wie hast du so schnell so viel Wasser aufgefangen?« Der Regen hatte so stark nachgelassen, dass er unmöglich ausgereicht hätte, um den Eimer so weit zu füllen.
»Ich habe den Eimer so hingestellt, dass er das Regenwasser vom Dach aufgefangen hat. Ich wollte eigentlich Wasser sammeln, damit wir uns heute Abend waschen können, aber dann kam mir die Idee, dass du den Knöchel kühlen könntest. Es wird noch genug Zeit sein, um frisches Wasser für später zu sammeln.« Während sie den Knöchel badete, setzte Dare sich wieder hin und widmete sich dem offenbar faszinierenden Thema der Plattentektonik.
Sie stützte das Kinn aufs Knie und beobachtete die Art, wie er beim Lesen die Stirn runzelte; es gefiel ihr, dass er das Buch manchmal zur Seite drehte, um sich Karten und Tabellen anzusehen. Sie hätte ihn nicht für einen großen Leser gehalten, aber andererseits, was hatte sie schon über ihn gewusst? Sie war dermaßen sauer auf ihn gewesen, dass sie nichts anderes in ihm gesehen hatte als einen Stachel in ihrem Fleisch.
Oh, sie hatte von Anfang an gewusst – diese verdammten Schmetterlinge waren ein verräterisches Zeichen –, dass sie sich auf einer sexuellen Basis zutiefst zu ihm hingezogen fühlte, weshalb sie einen so großen Bogen um ihn gemacht hatte. Aber sie hatte nicht gewusst, dass er sie zum Lachen bringen konnte. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr allein das Zusammensein mit ihm dieses Gefühl von Behagen und Leichtigkeit schenkte. Es war, als wögen die Dinge, die sie belastet hatten, inzwischen nicht mehr gar so schwer.
Liebte sie ihn? Sie traute der Plötzlichkeit ihrer emotionalen Kehrtwende nicht – falls es tatsächlich eine Kehrtwende war, wenn man die Anwesenheit der Schmetterlinge bedachte. Trotzdem, sie konnte eine solche Entscheidung nicht aufgrund von grob gerechnet sechsunddreißig Stunden näherer Bekanntschaft treffen, ganz gleich wie folgenschwer diese sechsunddreißig Stunden auch gewesen waren. Und ebenso wenig, weil sie die Hälfte dieser Zeit damit verbracht hatte, in seinen Armen zu schlafen. Das Überleben hatte lebenslange Bande zwischen ihnen geschmiedet, daher verstand sie genau, was er damit meinte, dass er bei der Armee Freunde habe, die bis zum letzten Tag seines Leben seine Freunde bleiben würden. Sie empfand jetzt dasselbe für ihn.
»Warum siehst du mich so an?«, fragte er geistesabwesend und bewies damit, dass er seine Umgebung wahrnahm, egal wie versunken er in etwas sein mochte.
»Ich habe nachgedacht.«
»Schon zu irgendwelchen Entscheidungen gekommen?«
»Noch nicht.«
»Ich könnte mich rasieren«, erbot er sich.
»Würde keine Rolle spielen.«
»Gut, denn ich müsste mein Messer benutzen. Ich habe diesmal keinen Rasierapparat mitgenommen.«
Und da war es wieder, dieses Lächeln, das nicht nur auf ihrem Gesicht entstand, sondern in ihrem Herzen.
26
Spät an diesem Nachmittag verebbte der Regen zu einem Nieseln und erstarb dann nach wenigen Minuten ganz. Nachdem sie das Geräusch so lange gehört hatte, war die plötzliche Stille beinahe so verstörend wie das Gewitter. Dare hob den
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