Lauf, wenn du kannst
doch die sauberste Lösung. Er musste sie jetzt töten, bevor sie jemals ahnten, was für ein Ungeheuer sie großgezogen hatten. Dann würde er mit den Nachbarn weitermachen und sich systematisch von Haus zu Haus voranarbeiten, bis er die ganze Straße ausgelöscht hatte.
Vermutlich war eine Pistole am besten geeignet. Schnell, weniger Körpereinsatz. Allerdings rührte ihn das nicht so an. Kugeln töteten aus der Entfernung. Aber er bevorzugte Nähe und Vertrautheit. Er wollte das feuchte Schmatzen hören, wenn das Messer die Haut durchtrennte, den warmen Regen spüren, wenn sich ein Menschenleben über seine Hände ergoss, und zusehen, wie der letzte Hoffnungsschimmer im Gesicht erlosch, bis nur noch eine endlose und grausige Leere übrig blieb.
Warum hatte er es nicht getan? Er hätte in die Küche gehen, sich ein gezacktes Messer nehmen und sich seine Mutter vorknöpfen sollen.
Aber nein. Stattdessen hatte er einfach dagesessen und irgendwann festgestellt, dass er hungrig war. Also hatte er sich ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade gemacht. Und als sein Magen voll war, hatte er gespürt, wie sehr ihn seine Wut ermüdet hatte. Also hatte er erst einmal ein Nickerchen gehalten.
Ehe er sich versah, war der neue Tag angebrochen, ohne dass er zu einer Entscheidung gekommen wäre. Und vier Tage später war dann die Polizei bei seinen Eltern erschienen, mit der Folge, dass für die Entscheidungen in seinem Leben lange Zeit andere zuständig gewesen waren.
Er hängte das Kindermädchen auf, verrutschte die Kommode und riss die Plastikplane an der zerbrochenen Schiebetür ab. Danach legte er den schlecht gefälschten Abschiedsbrief aufs Bett.
An seinem Gürtel läutete das Mobiltelefon. Seine Kontaktperson meldete, dass Catherine und Nathan auf dem Heimweg seien. Zeit zu gehen. In der Tür blieb er, die Hand auf dem Türknauf, stehen und versuchte, einen Hauch ihres Parfüms aufzufangen. Träumte sie von ihm? Vermisste sie ihn? Es hieß doch, dass ein Mädchen das erste Mal nie vergaß ...
Und dann, im nächsten Moment, hatte er eine göttliche Eingebung. Rasch ging er ins Zimmer des Jungen. Vier Minuten, mehr brauchte er nicht. Nur ein kleiner Handgriff hier und dort.
Die Aufregung meldete sich wieder. Dieses flüchtige Prickeln, das er zuletzt mit dem Arm um den Hals des dicken Mädchens verspürt hatte. Während er sich hastig in dem Zimmer des Jungen zu schaffen machte, regte es sich erneut, und er malte sich Catherines Gesichtsausdruck aus.
Drei Minuten später sprang er, ein Pfeifen auf den Lippen, die Stufen hinab. Er stellte die Alarmanlage wieder ein, zog die Eingangstür zu und schloss sie ab und ging in die Vorhalle, wo er Trickster hochhob, der ihn bereits an der Tür zur Straße erwartete. Sie machten sich auf den Weg.
Hinter sich hörte er die Stimme eines kleinen Jungen: »Mommy, schau mal, ein Welpe.«
Dann verschwand Mr Bosu in der Dämmerung.
Nun, auf dem Parkplatz des Hampton Inn, gab Mr Bosu den Gedanken an Weiterschlafen auf. Er war zu unruhig und aufgewühlt von der Erinnerung an vergangene Ereignisse.
Dann mache ich mich doch besser nützlich, beschloss er. »Komm, Trickster«, sagte er leise. »Wir fahren spazieren.«
28
Ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen«, sagte er. »Ich fühle mich aufgekratzt und unruhig und denke ständig an Alkohol. Ich weiß, dass es schon spät ist, aber kann ich trotzdem vorbeikommen?«
»Das würde ich Ihnen sogar empfehlen«, erwiderte sie.
Eine Viertelstunde später war er da. Sie erwartete ihn an der Tür.
Dr. Elizabeth Lane hatte Bobby seit vierundzwanzig Stunden nicht gesehen, und sie war bei seinem Anblick erschrocken und enttäuscht. Sein Gesicht war eingefallen, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Und statt wie sonst fast reglos in ihrem Büro zu sitzen, lief er nun hektisch hin und her und verbreitete eine überdrehte und nervöse Atmosphäre. Offenbar stand er kurz vor dem Zusammenbruch. Ein falscher Schritt, und er würde in den Abgrund stürzen. Dr. Lane spielte mit dem Gedanken, ihm ein Medikament zu verschreiben. Aber für den Moment beschränkte sie sich auf das übliche »Möchten Sie ein Glas Wasser?«
»Sie kennen doch sicher den alten Spruch«, sprudelte er hervor. »Nur weil man unter Verfolgungswahn leidet, muss das noch lange nicht heißen, dass wirklich niemand hinter einem her ist.«
»Ja.«
»Tja, ich habe mich eigentlich nie für paranoid gehalten, aber inzwischen glaube ich, dass sie es auf mich
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