Lauf, wenn du kannst
unbedingt etwas zu bedeuten haben.«
»Doch, muss es, Doc. Sonst hätte sie es doch vermutlich nicht gesagt.«
»Bobby, haben Sie mit Catherine Gagnon gesprochen? Kannten Sie Jimmys Frau?«
»Nein, Doc, ich schwöre, wir haben nie ein Wort miteinander gewechselt.«
Bobby stand bereits im Vorraum, zog die dicke Wolljacke an und wickelte sich den Schal um. Elizabeth folgte ihm.
Ihr Radar arbeitete zwar mit voller Kraft, aber sie konnte seinen Schutzschild nicht durchdringen. »Dann sehen wir uns Montag um drei. Ach, ist das schön, einen richtigen Termin zu haben.«
Bobby verdrehte die Augen, salutierte kurz und ging zur Tür. Kurz darauf blickte sie ihm nach, wie er, die Schultern wegen der Kälte hochgezogen und die Hände tief in den Jackentaschen, die Boylston Street hinunterging.
Noch lange, nachdem er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, stand Dr. Elizabeth Lane am Fenster. Schließlich stieß sie einen abgrundtiefen Seufzer des Missfallens aus.
Was sie jetzt tun musste, gefiel ihr gar nicht.
Überhaupt nicht.
Sie griff zum Telefon.
»Hallo.«
Einige Sekunden vergingen.
»Ich bedaure. Herzliches Beileid. Mir ist klar, wie unpassend es ist.«
Eine Pause entstand.
»Entschuldigen Sie vielmals die Störung, Sir, aber wir müssen miteinander reden.«
6
Bobby marschierte nach Süden und überlegte, was er nun tun sollte. Die Ärztin hatte Recht. Er war müde, hungrig und erschöpft. Am besten wäre es gewesen, für heute Schluss zu machen, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Er wohnte im Erdgeschoss eines Dreifamilien-Reihenhauses und vermietete die oberen beiden Etagen für ein geringes Entgelt. Es war wirklich sehr wenig, denn eine der Mieterinnen, Mrs Higgins, hatte schon hier gewohnt, als Bobby das Haus gekauft hatte. Der Vorbesitzer hatte zwanzig Jahre lang einhundertundfünf Dollar pro Monat von ihr verlangt, und Bobby hatte es nicht übers Herz gebracht, die Miete zu erhöhen. So waren die Leute nun mal in Southie. Sie kümmerten sich umeinander. Und obwohl er noch ein Außenseiter war, ein Zugezogener, der sich in dieses alte Viertel eingekauft hatte, fand er es richtig, sich den hiesigen Sitten anzupassen. Also ließ er Mrs Higgins und ihre drei Katzen weiter für einhundertundfünf Dollar wohnen. Dafür buk sie ihm Schokoladenkekse und erzählte ihm von ihren Enkelkindern.
Sicher würde Mrs Higgins nun enttäuscht von ihm sein. Sie mochte Susan, womit sie die Meinung von Bobbys gesamtem Freundes- und Bekanntenkreis teilte. Susan war reizend. Susan war nett. Susan war die optimale Ehefrau für Bobby.
Und nun war es vorbei. Bobby hatte die Therapeutin nämlich angelogen, vielleicht deshalb, weil die Gewissheit ihm noch zu wehtat. Seit fünf Stunden waren er und Susan kein Paar mehr. Es war ein Luftschloss gewesen, und nun war es eingestürzt.
Heute Nachmittag war er kurz nach eins aus dem Schlaf hochgeschreckt, noch wackelig auf den Beinen und verdattert, weil Verkehrslärm in das sonnenhelle Zimmer drang. O mein Gott, er hatte den Wecker überhört. Er war in der falschen Wohnung. Er hatte seine Uniform nicht dabei. Ach, Mist, jetzt würde es ordentlich Ärger geben ...
Und da fiel es ihm schlagartig ein. Die Nacht, der Schuss, das Gehirn des Mannes, das auf der anderen Straßenseite durchs Zimmer spritzte. Er lag in Susans Bett, spürte das Klopfen seines Herzens und befürchtete kurz, er sei im Begriff, einen Herzinfarkt zu erleiden. Er konnte nicht atmen, und sein Arm prickelte, sodass ein stechender Schmerz bis in die Brust ausstrahlte, während er weiter nach Luft rang.
Dann erinnerte er sich. Susans Blondschopf, warm und schwer auf seiner Schulter. Ihr nackter Körper schmiegte sich an ihn. Ihr linkes Bein lag über seiner Hüfte. Die Bettwäsche roch nach Lavendel und Sex.
Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihr weg. Sie bewegte sich, rollte sich mit einem tiefen Seufzer herum und schlief wieder ein. Als er sie noch eine Weile beobachtete, wurde er von einem Gefühl ergriffen, das er nicht in Worte fassen konnte. Er wollte ihre Wange berühren und den Duft ihrer Haut schnuppern, sich an sie schmiegen und sich anklammern wie ein Kind.
Fast verzweifelt dachte er, dass dieser Tag ja niemals beginnen würde, wenn er einfach nicht aufstand. Er würde hier bleiben, sie auch, und dann würde er es ihr niemals sagen müssen, sodass sie es auch nicht zu erfahren brauchte. Seine Welt würde weiter aus warmer nackter Haut, zerzaustem blondem Haar und lavendelduftenden Laken
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