Lauf, wenn du kannst
der für die Sauberkeit im Zellenblock zuständig war und dafür eine ein bisschen größere Zelle bekam. Ja, es war wirklich ein vor Aufregung prickelndes Leben, in dem die größte Abwechslung darin bestand, den Fernseher einzuschalten und Britney Spears anzuglotzen.
So viel Zeit. Zum Herumsitzen. Zum Grübeln. Zum Pläneschmieden.
In Gefängnissen ging es ausschließlich um Macht. Und Macht hatte etwas mit Geld zu tun. Er war verhasst und gefürchtet. Nun übte er sich in Geduld. Er hortete Zigaretten und häufte ein kleines Vermögen an. Dann wartete er darauf, dass ein neues Gesicht in die Betonmauern einzog. Ein Mensch, der sich weniger für seine Vergangenheit als für die eigene Zukunft interessierte.
Es dauerte acht Jahre. Der Glückspilz war ein junger Bursche, nicht viel älter als der Mann es zu Anfang gewesen war. Allerdings war dieser Junge mager und hatte ein pickeliges Gesicht. Wie sich herausstellte, hatte er unanständige Filme gedreht, in denen die kleinen Mädchen aus der Kindertagesstätte seiner Mutter die Hauptrolle spielten. Der Junge wanderte sofort in Schutzhaft, wo er jede Nacht verängstigt in die Dunkelheit starrte und auf den schwarzen Mann wartete, denn er wusste, dass er keine Chance hatte.
Der Mann schnappte ihn sich zuerst. Er steckte einem Wachmann ein wenig Geld zu, worauf dieser dem Jungen einen Brief des Mannes mit der Unterschrift »Mr Bosu« überbrachte. Ein paar Geldscheine und Briefe später war der Junge zu jeder Schandtat bereit. Mr Bosu hatte ihn überzeugt. Wenn der Junge überleben wollte, musste er zuerst und mit voller Kraft zuschlagen. Er musste sich jetzt, in den ersten Wochen, einen Ruf verschaffen, damit die anderen ihn in Ruhe ließen.
Der Junge war leicht zu überreden. Und Mr Bosu war so nett, ihm weitere Ratschläge zu geben. Wie man ein Messer anfertigte. Wie man es versteckte. Wie man das geschärfte Stück Metall schnell zückte und den Gegner überrumpelte. Und, ja, natürlich, wie man sich einen Gegner aussuchte.
Der Mann hatte nicht viel für Latinos übrig. Zum Teufel mit diesen Typen, die Weiße zum bloßen Vergnügen umlegten. Mr Bosu hatte ein größeres Stück Beute ausgespäht.
Es geschah an einem Donnerstag. In der Kantine. Der Pornojunge verteilte das Essen an die übrigen Insassen des Hochsicherheitstrakts. Schließlich stellten sich die beiden fraglichen Weißen in die Schlange. Der Junge bat sie, zu warten, weil er neues Essen holen müsse, und niemand achtete auf ihn, als er die Theke umrundete. Den ersten Neonazi legte er um, ohne dass dieser auch nur einen Mucks von sich gab. Dem zweiten gelang es gerade noch, verdattert sein Tablett zu heben, als ihm der Junge schon an die Gurgel ging.
Der Mann erfuhr später, wie es gelaufen war. Der Junge, der im Höchstfall fünfundsiebzig Kilo wog, habe erstaunliche Kräfte entwickelt. Wie ein Klammeraffe habe er die beiden weißen Rassisten mit gefletschten Zähnen und weit aufgerissenen Augen angesprungen und mit dem Messer auf ihre Hälse eingestochen. Das Blut aus der Arterie sei fast drei Meter weit gespritzt. Die Kameraden, die bereits am Tisch gesessen hätten, hätten nicht gewusst, ob das Rote auf ihren Hemden von den beiden zappelnden Kerlen oder von der Tomatensauce auf ihren zu weich gekochten Spaghetti stammte.
Die Hölle brach los, als die Neonazi-Kumpel der zwei aufsprangen und sich – verblödete Neandertaler, die sie nun einmal waren – auf den nächstbesten Latino stürzten anstatt auf den bewaffneten Jungen, der immer noch auf ihre Bandenbrüder einhackte.
Sich mit dicken Matratzen schützend, stürmte das Wachpersonal die Kantine und schoss jedem in die Knie, der so dumm war, aufzustehen. Alle Türen verriegelten sich automatisch, und Sirenen heulten, während der Junge mitten in dem Gemetzel stand, das Messer in der blutigen Faust schwenkte und kreischte: »Also, ihr Arschlöcher, wagt es bloß nicht, mich anzufassen!«
Ein triumphaler Augenblick, dachte der Mann, gleichzeitig erschrocken und positiv überrascht von seinem Schüler. Natürlich verschwand der Junge zwei Tage später. Jede Menge Blut in der Wäscherei, aber nirgendwo eine Leiche. Lasst lieber die Finger vom Hackbraten, lautete die Parole.
Daraufhin setzte der Staat eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung der »Bandenproblematik« in diesem Gefängnis ein, und der Direktor der Haftanstalt führte allen Sträflingen ein Video zum Thema »Rasse und Toleranz« vor. »Hier geht es wirklich um dich persönlich,
Weitere Kostenlose Bücher