Laufend loslassen
es dann auch. Um 16 Uhr mache ich halt und genieße einen halben Ruhetag. Langsam gewinne ich mein inneres Gleichgewicht zurück und die Schuldzuweisungen in beide Richtungen werden schwächer.
Abends gehe ich in Tence noch in eine Bar, schreibe Briefe bei einem Bier.
Mittwoch, 13. Juni
Ich lasse mir Zeit, frühstücke lange, packe langsam ein und kurz vor zwölf mache ich mich auf den Weg. Bald geht es durch Wald, angenehm an diesem sonnigen Tag. Während ich laufe, schmiede ich ernsthaft Pläne, welche Dinge ich schon von Le Puy aus nach Hause schicken könnte. Jedenfalls habe ich keine Lust mehr, 15 Kilo durch halb Frankreich und ganz Spanien zu schleppen. Ich kann es kaum fassen, aber schon nach weniger als zweieinhalb Stunden bin ich in St. Jaurès. Mein erster Besuch gilt der kleinen romanischen Kirche aus dem 12. Jahrhundert, in der ich einige Zeit der Stille zubringe und ein „Toi, tu nous aimes..“ anstimme, was ich mir aber nur traue, weil ich alleine bin.
Der zweite Besuch gilt dem Café-Restaurant, wo ich zwar schnell einen Kaffee bekomme, der aber etwas fad schmeckt. Während ich noch sitze, den gestern geschriebenen Brief versandfertig mache und ein paar Notizen schreibe, fängt es vernehmlich zu donnern an.
Heute ist der 15. Tag. Nach meiner Durchschnittsrechnung zu Hause hätte ich heute in Le Puy ankommen müssen, weil ich mit 300 Kilometern von Taizé nach Le Puy gerechnet habe. In Taizé habe ich die Information erhalten, dass es 320 Kilometer seien, für mich also 16 Tage. Dass ich in den ersten Tagen langsamer gehen würde, war klar und einkalkuliert. Mit Freude und auch ein bisschen Stolz stelle ich also gerade fest, dass ich recht gut in der Zeit liege.
Übrigens schwankt meine Stimmung bezüglich des Ausgangs des gesamten Unternehmens beträchtlich. So eine Erkenntnis wie jetzt stimmt mich optimistisch. Wenn wieder mal der rechte Fuß teuflisch schmerzt, der Rucksack schwer an den Schultern hängt und der Rücken wehtut - ein Gefühl, das mir sonst im Alltag völlig fremd ist - , dann macht sich Zweifel breit bis zur Mutlosigkeit.
Bis jetzt geht es heute relativ gut, der halbe Ruhetag und das lange Schlafen haben sich rentiert.
Plötzlich ist Gewitterstimmung, es ist kühler geworden, die Sonne weg. Immer wieder sehe ich am Höhenzug hinter Araules kräftige Blitze und Gewitterschauer. Der Donner ist mein ständiger Begleiter. Aber außer ein paar vereinzelten Tropfen bekomme ich nichts ab. Als es dann richtig zu regnen beginnt, habe ich das Buswartehäuschen von Araules erreicht und sitze im Trockenen. Ein Schild wenige Schritte daneben zeigt mit der stilisierten Jakobsmuschel 1551 Kilometer nach Santiago. Ich habe noch 76 Tage, wenn ich wenigstens einen Tag vor meinem Rückflug ankommen will. Mein Optimismus steigt. Das werde ich schaffen. Es regnet wieder einmal Blasen. Ein Blitz höchstens 100 Meter entfernt.
Es gießt wie aus Eimern, aber ich sitze im Trockenen. Ab und zu schnuppere ich an der Holunderblüte, die ich am Ortsrand gepflückt habe, und genieße den süßlichen Duft. Nach einer Stunde ist das Schlimmste vorbei und ich laufe weiter. Es ist kühl geworden, 15 Grad. Von oben kommt nicht mehr viel, dafür von unten. Die Wege haben sich in Bäche verwandelt und ausgerechnet jetzt ist der GR 65 ein ewig langer, mit hohem Gras bestandener enger Weg.
Die Schuhe werden klitschnass.
Mit der Zeit merke ich, dass auch die Füße patschnass sind und dass sich rechts am Zeh eine Blase zu bilden beginnt. Sofort Störungen beseitigen, sagt die Wandererregel. Aber das ist leichter gesagt als getan, wenn alles klitschnass ist und man sich nirgends einigermaßen trocken setzen kann. Selbst wenn ich die Socken wechseln würde, die neuen wären nach ein paar Minuten so nass wie die vorherigen.
Also laufe ich weiter. Gegen acht Uhr erreiche ich Queyrières, mein angestrebtes Ziel. Direkt um eine Bergspitze aus Säulenbasalt ein kleines Dorf, daneben eine Unterkunft. Erst heißt es, alles sei voll, dann wird aber doch der Gite, ein Einzimmerappartement mit Kochnische, indischen Bildern an den Wänden und einem schönen runden Tisch sowie zwei Betten, geöffnet. Der kleine Ort hat es mir auf den ersten Blick angetan und es ist schön, hierbleiben zu können. „So wie gestern und heute wird die Pilgerfahrt mehr als nur eine Strapaze.“, denke ich beim Zubettgehen.
Donnerstag, 14. Juni
Obwohl ich lange nicht einschlafen konnte, wache ich kurz vor acht erholt auf. Es war
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