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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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er den Jakobsweg von hier aus auch schon zu Fuß gemacht hat, mit Etappen, die 30 Kilometer betragen haben. Er läuft mit mir ein Stück, viel zu schnell für meine Verhältnisse. Er fordert mich zwar auf, nach meinem Tempo zu marschieren, aber ich merke, dass ich mich trotzdem anzupassen versuche. Wir unterhalten uns über vielerlei, mir bleibt fast die Puste weg.
    Am Ende bleibt die Bilanz: Es war eine interessante Begegnung, aber ich habe auf mich nicht richtig achtgegeben und büße es mit Herzschmerzen. Am Abend passiert mir etwas zum gleichen Thema.
    Ich finde in dem Gite d’etape in Montfaucon einen Tunesier, der in der Gemeinde arbeitet und offensichtlich Langeweile hat. Ich bin erschöpft und bräuchte eigentlich meine Ruhe, er will sich unterhalten. Was tue ich? Ich unterhalte mich mit ihm, trinke gegen meine Gewohnheit um zehn Uhr abends noch Kaffee mit ihm und höre mir so manche Geschichte über ihn und die Jugendlichen an, die sich offenbar die Vorhalle des Gite als Freizeittreff erkoren haben und - wenn ich ihm glauben kann - dort einen Teil ihrer erotischen Abenteuer ausleben. Er erzählt davon mit einer seltsamen Mischung von Geilheit und moralischer Entrüstung.
    Ich mache fast die ganze Nacht kein Auge zu, wozu auch ein Katzenkonzert in der Nähe beiträgt. Während ich mich unruhig in meinem Herbergsbett hin und her wälze, grüble ich über diese beiden Begegnungen nach. Warum kann ich gut für mich sorgen, wenn ich allein bin, aber nicht gut im Kontakt mit anderen? Ich passe mich den Wünschen der anderen an. Was vermeide ich, was gewinne ich dabei? Bilder kommen, Vermutungen, bis die Gedanken verschwimmen.
     

Dienstag, 12. Juni
    Kurz vor sieben werde ich von dem Tunesier geweckt. Er muss zur Arbeit und soll den Gite abschließen, was er mir gestern Abend nicht gesagt hat. „Los, schnell waschen, ich muss weg!.“, drängt er mich. Ich nehme meine Hose mit allen Wertgegenständen und dem Geld und auch meine Bauchtasche mit in die Waschkabine. Nur mein teures Batterieladegerät ist im Rucksack, ich habe nachts damit noch meine Kameraakkus aufgeladen. Dann also Katzenwäsche, schnell gepackt und schon stehe ich draußen in der Morgenkühle. Ich komme gar nicht auf die Idee, dass ich mich dagegen auch wehren könnte. Es ist erst kurz nach sieben Uhr. Meine Einsilbigkeit erkläre ich mit einem „Ce n’est pas mon temps.“ und verabschiede mich ohne Wehmut.
    Ich fühle mich zum Steinerweichen. Erst muss mal was zu essen her. Also in die Bäckerei und den Lebensmittelladen. Ich packe meinen Rucksack um, hole den GR-65-Führer heraus, um ihn in meiner Bauchtasche zu deponieren. Ich laufe los.
    Nach einer halben Stunde habe ich plötzlich eine Intuition: „Ist mein Batterieladegerät dabei?.“ Ich setze ab und schaue nach. Es ist nicht da. Ich laufe zurück, überprüfe die Sitzbank in der überdachten Vorhalle der Herberge, kontrolliere im Gite, wozu ich mir im Touristbüro den Schlüssel hole. Nichts! Ich muss sehr an mich halten, meinen einzigen Mitbewohner der vergangenen Nacht nicht sofort unter Verdacht zu nehmen, es gestohlen zu haben, während ich am Morgen kurz beim Waschen war. Unwahrscheinlich!? Aber dass ich die Tüte beim Umpacken auf einer übersichtlichen Sitzbank liegen gelassen habe, ist auch unwahrscheinlich! Jedenfalls ist es weg. Ein gutes, schnelles Ladegerät brauche ich, sonst kann ich bald das Fotografieren vergessen, und Geld dafür ist eigentlich nicht eingeplant. Eine harte Probe für mein Vertrauen und eine schwierige Übung im Loslassen.
    Das kostet mich innerlich Kraft und ich merke deutlich, dass die mir beim Laufen fehlt. Dauernd wäge ich ab, ob ich dem Tunesier die Schuld geben muss oder mir selbst. Es sind zähe Gedanken, die ich lange mit mir herumschleppe. Beim nächsten Wegkreuz wie gewohnt ein Vaterunser. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigem.“ Hier bleibe ich hängen. Ich bin nicht gut im Vergeben, weder mir selbst noch anderen, merke ich. Vergeben können setzt loslassen können voraus.
     
    Irgendwann habe ich Hunger und mein Rücken tut weh. Wo ich mich setzen kann, raste ich und esse. Der Hunger ist weg, der Rücken tut immer noch weh. Ich beschließe, nur bis Tence zu laufen und dort auf den Campingplatz zu gehen. Wenigstens heute gut für mich sorgen, wenn es mir schon gestern nicht gelungen ist! Da kann ich schlafen solange ich will und mehr Rückenschmerzen habe ich auch nach einer Nacht im Zelt nicht. So ist

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