Laufend loslassen
sind nass und dreckig bis zu den Knien, darüber nur nass. Der Weg führt durch eine an sich schöne Waldlandschaft, ab und zu von Lichtungen unterbrochen, aber ich habe heute keinen Geist dafür.
Für mich taucht heute die Frage auf, der auch andere auf dem Weg begegnet sind. Warum tue ich mir das eigentlich an? Warum mute ich mir das zu? Mit der Frage kommt natürlich nicht sogleich die Antwort, aber die Frage bleibt. Ist es Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, ist es Hoffnung auf Erlösung, ist es ein einziger Hilfeschrei an Gott? Was ich sicher weiß: Damit, mir oder irgendjemandem etwas beweisen zu wollen, hat es nichts zu tun. Eher mit Metanoia, Umkehr, weg von der totalen Stagnation und Resignation in die Bewegung. Noch etwas ist mir völlig klar: Aufgeben hieße meinen Untergang besiegeln.
Ich kämpfe mich noch bis 18 Uhr vorwärts, aber als ein Schild kommt, das mich enttäuscht und das daraufhinweist, dass ich vielleicht erst die Hälfte des Weges nach Tracol zurückgelegt habe, verlässt mich für heute jede Motivation. Unter ein paar Bäumen schlage ich mein Zelt auf und will erst mal nur meine Ruhe. Dann sind ein Fischdöschen, Brot und Käse dran und danach will ich nur noch liegen, liegen, liegen..
Montag, 11. Juni
Sehr lange geschlafen. Als ich aufwache, ist es fast zehn Uhr. Es hat mir gutgetan.
In Ruhe frühstücke ich die letzten Reste, packe ein und ziehe frische Kleidung an. Die erste Hose, immer nur notdürftig gewaschen, kann ich nicht mehr an mir sehen.
Ein Mann kommt vorbei mit zwei großen, aber braven Hunden. Er erzählt mir, dass ich jetzt eine schöne Strecke nach Le Puy vor mir hätte. Schon nach einer Stunde erreiche ich Tracol. Der Ort besteht hauptsächlich aus einem Hotel mit Restaurant und liegt knapp über 1000 Meter hoch. Es ist trüb und kühl. Als ich mir eine zweite Tasse Kaffee genehmige, fängt es zu regnen an. Gegenüber des Restaurants ist eine Tafel, die den Jakobsweg in seinem Verlauf beschreibt. Der GR 7 kreuzt hier bald den GR 65, also den Jakobsweg, der von Genf kommt. An der Wegkreuzung zeigt es sich: Der GR 65 ist breit und bequem, der GR 7 wieder einmal wenig mehr als ein Bachbett. Ich bin froh, dass ich ihn nun verlassen kann. Hier endet gewissermaßen der erste Abschnitt meiner Pilgerreise.
Jetzt geht es gut voran, trotz ständigen Regens. Ich bin guter Laune und froh, auch wieder die Jakobsmuschel als Wegmarkierung zu haben und damit in den Pilgerstrom eingegliedert zu sein, auch wenn ich bisher keinen einzigen Pilger sehe. In den letzten Tagen auf dem GR 7 hatte ich fast das Gefühl, einer von vielen Pilgern zu sein, verloren, und hatte den Eindruck, mich alleine durchkämpfen zu müssen. In Setoux, der ersten Station auf dem neuen Weg, mache ich halt. Es gibt dort einen Gite d’etape, der auch eine Gastwirtschaft hat. Als ich die Gaststube betrete, begegne ich nicht nur ausgesprochen freundlichen Wirtsleuten, die sich um mein leibliches Wohl kümmern und nach dem Woher und Wohin fragen, sondern auch Andreas, einem Schweizer aus Luzern, der von Lausanne nach Le Puy alleine unterwegs ist und dort seine Schwester treffen will, um mit ihr zusammen weiter auf dem Jakobsweg zu wandern. Einen Monat hat er sich Zeit genommen. Um ein bisschen länger plaudern zu können, genehmige ich mir noch einen zweiten Tee, ohne auf die Uhr zu schauen. Denn schließlich kann ich mich zum ersten Mal seit fast zwei Wochen wieder auf Deutsch unterhalten. Um halb drei gehe ich weiter, nicht ohne von den Wirtsleuten noch mit „bon courage.“ verabschiedet zu werden. Der Weg fällt ständig, ist breit und bequem und vor allem sehr gut gekennzeichnet. Als es immer weiter abwärtsgeht, kommt mir eine Geschichte von Eulenspiegel in den Sinn. Der hat sich immer schon geärgert, wenn es abwärtsging, weil der anschließende Aufstieg unvermeidlich war.
Dafür hat er sich dann beim Anstieg gefreut. Im Ganzen bin ich heiterer Stimmung heute.
Ich nehme mir vor, mich auch auf dem neuen Weg von meinen Kräften und Intuitionen leiten zu lassen und den präzisen Führer, den ich im Rucksack habe, zwar als Hilfe zu benutzen, ihm aber nicht die Regie zu überlassen. Denn ich habe den Reiz, den es ausmacht, nicht zu wissen, wo man abends ist, deutlich gespürt. So unterwegs zu sein stärkt das Vertrauen, dass das Leben das Richtige für mich bereithält, und Vertrauen, das ist mein Thema.
Etwa fünf Kilometer vor Montfaucon treffe ich einen Mountainbikefahrer, der mir erzählt, dass
Weitere Kostenlose Bücher