Laufend loslassen
herrlich hier in diesem Gite, ich habe mich sehr wohl gefühlt, für ein paar Stunden mein eigenes kleines Reich zu haben. Beim Frühstück sitze ich mit französischen Mountainbikefahrern zusammen, die eine Rundtour um Le Puy en Velay machen. Dann breche ich gut gesättigt auf. Während der Nacht sind die Wege etwas abgetrocknet. Der Weg entlang eines reißenden Baches mit einer alten Mühle ist landschaftlich interessant, aber das Auf und Ab und die vielen Steine machen ihn langsam. Zudem behindert mich links ein Wadenkrampf, aber noch kann das an meiner positiven Stimmung nichts ändern. Ich glaube, es ist die Vorfreude darauf, heute in Le Puy anzukommen. Mein linkes Schienbein beginnt ebenfalls wehzutun.
Ich kaufe mir in St. Julien de Chapteuil Magnesiumtabletten. Über dem Ort burgähnlich eine große Kirche. Sie erinnert mich ein bisschen an den Michelsberg in Bamberg. St. Julien und auch die anderen Orte sind alle aus dem Basalt der Gegend gebaut. Bergkuppen gibt es zuhauf. Sie künden vom vulkanischen Ursprung der Landschaft. Hier im Ort gibt es malerische Stellen. Für einen Moment kommt mir der Gedanke, dass es schön wäre, hier zu wohnen. Aber es ist die Freude des flüchtigen Wanderers an stillen Winkeln oder schönen Landschaften. Wirklich hier bleiben und wohnen? Wohl kaum!
Wenn auch langsam, ich komme voran. Um drei Uhr bin ich in St. Germain Laprade mit einem eindrucksvollen Kirchturm. Der Kirche gilt mein erster Gang. Es ist so dunkel innen, dass sich die Augen erst einmal an die feierliche Düsterkeit gewöhnen müssen. Nackter Basaltstein prägt das Innere dieser eindrucksvollen Kirche, die sicher aus dem 11 .Jahrhundert stammt, in Teilen sogar noch hundert Jahre älter ist.
Der Kirchenraum inspiriert mich dazu, eine Meditation mitTaizé-Liedern anzustimmen. Diese Lieder sind mir zur wichtigen Hilfe auf dem Weg geworden. Ihre Melodien steigen mehr in mir auf als dass ich sie mir bewusst auswähle. Dann stelle ich oft fest, dass mir der Text des Liedes, das in mir angeklungen ist, eine Antwort auf die derzeitige innere Situation gibt oder eine seelische Stärkung.
Anschließend nehme ich mir auf dem Kirchplatz auf einer Bank erst einmal Zeit für eine Erfrischungspause vor den letzten acht oder neun Kilometern nach Le Puy. Mit dem Wetter für diese lange Etappe habe ich Glück. Es ist kühl, selbst jetzt, wo die Sonne wieder durchbricht, denn ein heftiger Wind bringt Erfrischung.
Bald hinter St. Germain Laprade steigt der Weg auf einem ziemlich wässrigen Feldweg an. Oben wird man zum ersten Mal einen Blick auf Le Puy haben. Ich habe das Gefühl wie als 13-Jähriger, als ich zum ersten Mal bei Heidkate in der Nähe von Kiel hinter einem kleinen Dünenwall das Meer versteckt hörte. Die Erinnerung an dieses sich Nähern gegenüber etwas ganz Neuem kommt wieder. Dabei kenne ich Le Puy von einer früheren
Reise. Doch diesmal ist es etwas anderes. Plötzlich wird der Blick frei, ich sehe die Stadt mit dem Notre-Dame-de-France-Felsen und der Kapelle auf der Felsnadel und bin begeistert. Der Ort, an dem ich stehe, heißt nicht umsonst Montjoie, Berg der Freude. Endlich!
Dann sind es noch zwei lange, harte Stunden, bis ich endlich auf dem Campingplatz unterhalb der Felsnadel stehe. Der Schmerz in meiner Wade und in meinem Schienbein hat jeden Schritt zur Qual gemacht. Zum Schluss bin ich mehr gehumpelt als gelaufen. Zur Belohnung gönne ich mir eine Pizza und eine Flasche Côte de Provence rosé.
Später kommt noch ein junger Franzose, Paul, auf mich zu. „Pilgerst du nach Santiago?.“, fragt er. Er macht eine Wanderung in der Gegend und stammt aus Caen, wo er Theater studiert. Im Gespräch wird schnell klar, dass er auf der spirituellen Suche ist. Ich erzähle ihm von den Treffen in Taizé, was er nicht kennt. Dagegen hat er von dem buddhistischen Zentrum Thich Nhat Hanhs, das südlich von Bergerac liegt, schon gewusst. Ich habe davon durch ein Buch dieses vietnamesischen Zen-Meisters gehört, dessen sozial aktiver Buddhismus mich beeindruckt hat. Wir führen ein interessantes Gespräch über den Jakobsweg, über die spirituelle Tradition von mehr als einem Jahrtausend und davon, dass es einer Frage bedarf, um eine Antwort zu finden. Er hat wie ich das Buch von Paulo Coelho über den Jakobsweg gelesen und fragt, wie man einen solchen Führer, wie er dort beschrieben ist, finden könne. „Wir haben alle einen inneren Führer in uns, dem wir uns jedoch öffnen müssen.“, antworte ich
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