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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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ihm. Wir sprechen lange und tiefgehend miteinander.
    Dann, abends, nach dem Gespräch, in der Stille der hereinbrechenden Nacht, sitze ich da, noch erfüllt von der Intensität des Gedankenaustauschs. Nur sitzen und lauschen und innerlich froh sein, was könnte es Schöneres geben.
     

Freitag, 15. Juni
    Heute früh im nassen Schlafsack erwacht. In der Nacht brach ein kräftiges Gewitter aus, dem das Zelt wohl nicht gewachsen war. Noch immer tut mein Schienbein höllisch weh. Aber ich muss in einen Elektromarkt wegen eines neuen Ladegerätes. Ich finde eins, teure deutsche Wertarbeit, und humple zum Campingplatz zurück. Dann kommt mir die Idee, mir einen nassen Wickel aus meinem Handtuch zu machen. Ich verstecke das Ganze verschämt im Hosenbein, aber es wirkt. Im Laufe des Tages werden die Schmerzen weniger. Dann geht es zur Kathedrale. Die Straße führt steil bergauf, dann viele Stufen und man steht mitten im Kirchenraum. An arabische Architektur erinnernde Bögen, Kuppeln, eine Jakobsstatue, von der aus die Pilger gesegnet werden. Gerade wird auch die Sakristei geöffnet, wo ich meinen Stempel hole und mich ins Pilgerbuch eintrage, ganz oben auf einer neuen Seite. Für den 15. 6. sind immerhin schon zehn Pilger eingetragen.
    Jeden Tag tragen sich hier zwischen fünfzehn und dreißig Pilger ein.
    Ich suche nach Bernhard, kann ihn aber in dem Verzeichnis nicht finden. Wo er wohl gerade ist?
    Ich suche auch nach einem Eintrag von Ursula, einer meiner Kursteilnehmerinnen aus Bamberg, die vor etwa drei Wochen hier gestartet ist, kann aber nichts finden. Die lange Liste der eingetragenen Namen verwirrt mich und lässt mich gleichzeitig staunen. So viele also gehen diesen Weg! Ich lasse die eindrucksvolle Kirche, Weltkulturerbe seit 1998, noch eine Weile auf mich wirken, dann gehe ich hinunter in die lebendige Stadt, streife ein wenig durch die Straßen. Ich entdecke die Tafel, die den Beginn der Via Podiensis, des ältesten Pilgerweges nach Santiago, verkündet.
     
    Wenig später fällt die Entscheidung. Ich werde mich von einem Teil des Gewichtes und damit von einigen der Dinge trennen, die für mich zunächst unverzichtbar erschienen, und sie nach Hause schicken. Als die Idee Kraft gewinnt, hat die Post schon geschlossen und ich kann erst morgen einen Karton kaufen. Aber das ist es mir wert. Als ich dann auf dem Campingplatz das Verzichtbare aus dem Rucksack hole, kommen mehrere Kilo zusammen, insgesamt drei. Kleider, Bücher, Sprachführer, Geräte, alles landet im Karton. Nirgendwo wie beim Pilgern wird so deutlich: Besitz ist auch Ballast. Er scheint Sicherheit zu geben. Aber wie viel Sicherheit brauche ich wirklich? Gegen welche Eventualitäten glaube ich mich wappnen zu müssen? Was ist es wert, 1500 Kilometer auf dem Rücken getragen zu werden? Gerne wäre ich dann zu der von Bischof Godeschalk gebauten Michaelskirche hinaufgestiegen, einem Bischof, der sich schon um 950 auf den Weg nach Santiago gemacht hat, aber die 450 Stufen auf die Aiguillhe waren für mein Bein unzumutbar und hätten die Weiterreise ernsthaft gefährdet.
    Abends, als ich im Zelt über den Tag nachdenke, staune ich noch immer über die große Zahl von Pilgern, die jeden Tag von hier aus aufbrechen. Wem werde ich auf dem Weg begegnen? Wie viele von denen, die in den letzten Tagen vor mir losgelaufen sind oder in den Tagen nach mir starten werden, werde ich treffen? Was bewegt sie, sich auf den Weg zu machen und was bewegt mich wirklich im Tiefsten? Was hat die Pilger früherer Zeiten bewegt, sich bis an den Rand der bekannten Welt aufzumachen und vorzuwagen? Ich habe jedenfalls die Ahnung, dass die Sache jetzt erst richtig losgeht.
    Ich lese mir nochmals den kurzen Text durch, den ich in der Kathedrale gefunden habe. Er wendet sich an die Pilger und beschreibt die Schätze der Fußwallfahrt:
     
    Die ganze Person als Einheit von Körper und Geist ist eingeschlossen.
    Wir trennen uns von allem Überfluss, das Notwendige ist dabei.
    Wir finden den Frieden, die Stille und die Schönheit von Gottes Natur.
    Der Weg ist eine Schule der Geduld.
    Die einfachen Dinge bekommen ihren Wert.
    Der Weg ist eine Schule der Gleichheit.
    Er ist auch eine Möglichkeit zur tiefgründigen Begegnung mit Menschen auf dem Weg.
    Er kann die Öffnung des Herzens für Gott bewirken.
    Er bietet Zeit für das Gebet an den Stätten derer, die seit zehn Jahrhunderten den Weggegangen sind.
    Einen Teil dieser Erfahrungen habe ich schon gemacht, weitere werden auf mich

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