Laufend loslassen
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Samstag, 16. Juni
Heute bin ich früh aufgestanden, um am Gottesdienst in der Kathedrale teilzunehmen, der mit der Segnung der Pilger endet. Etwa 60 Personen sind zugegen, vom Schüler bis zum Rentner. Ein ruhiger, eindringlicher Gottesdienst. Dann, vor der Segnung, stellen wir Pilger uns kurz vor, wo wir herkommen und was unser Ziel ist. Einige sind dabei, die bis Santiago wollen, die meisten machen jedoch nur einen Teilabschnitt. Die geistige Gemeinschaft, die die Pilger bilden, wird für einen Moment spürbar. Wir erhalten eine Plakette mit dem Gnadenbild von Le Puy, der schwarzen Madonna.
Außerdem können wir eine Bitte mitnehmen, die Menschen hinterlassen haben in dem Wissen, dass Pilger sie auf den Weg mittragen und sie ms Gebet und in die Meditation einschließen. Der Zettel, den ich ziehe, trägt die Bitte einer Frau, dass ihre Tochter den richtigen Weg in ihrem Leben einschlagen möge und die Bitte für sich selbst, dass sie den richtigen Begleiter für die restlichen Jahre ihres Lebens finde. Wie gut diese beiden Wünsche doch auch zu meiner Lebenssituation passen! Es wird mir leichtfallen, diese Wünsche mit meinen eigenen in Verbindung zu bringen und sie so auf dem Weg lebendig zu halten.
Anschließend, am Vormittag, sauge ich mich noch einmal mit Stadtluft voll, schlendere durch die engen Straßen voller Geschäfte und schaue dem lebhaften Treiben zu. Eine Zeit lang verweile ich auch auf dem Flohmarkt mit all seinen schönen Sachen - aus der Sicht des Pilgers nicht mehr als unnötiger Ballast. Dann verlasse ich Le Puy, nicht jedoch, bevor ich mein Paket abgeschickt habe.
Die Landschaft ist schön, die Ausblicke sind faszinierend, aber mein geschwollenes Bein tut weh. Ich denke mir: „Wie wäre es mal mit ein paar Tagen ohne Schmerzen, wo ich das Wandern einfach nur genießen kann, jetzt, wo der Rucksack deutlich leichter geworden ist?.“ Selbst nach einer Rast geht es nur schleppend weiter. Ich mache einen Wickel um die linke Wade und nehme eine Schmerztablette, ganz gegen meine Gewohnheit. Aber ich will vorwärtskommen und nicht schon auf der ersten Etappe der Via Podiensis einknicken. Die anderen Pilger sind längst über alle Berge. Ich sehe ihre Spuren. Mit Mühe schleppe ich mich noch bis Montbonnet, mache einen kurzen Halt in der kleinen Rochuskapelle am Dorfeingang und hoffe auf den einzigen Gite d’etape im Ort. Der ist voll. Also wandere ich weiter, auf den Höhenzug hinter dem Ort. Am Lac de l’Œuf, einem eiförmigen Vulkankrater, der einen jetzt verlandeten See bildet, finde ich einen Platz zum Zelten. Es ist inzwischen neun Uhr. Die vielen Fliegen kann ich mit Mühe vom Inneren des Zeltes fernhalten. Einfaches Abendessen, dann schlafen.
Sonntag, 17. Juni
Das Bein macht immer noch erhebliche Schwierigkeiten. Ich erwäge ernsthaft, ein paar Ruhetage einzulegen und nochmals eine Apotheke aufzusuchen. Langsam geht es nach Le Chier, wo ich auf den Bänken vor dem Bürgermeisteramt eine Verschnaufpause einlege. Offensichtlich - Plakate verkünden es — sind Regionalwahlen. Zwei einsame Männer sitzen im Bürgermeisteramt. Von Wählern ist um diese Zeit nichts zu sehen, dafür kommen zwei Pilger vorbei. Ich schleiche weiter, es geht ziemlich steil bergab, stoße auf St. Privat d’Allier. Es ist halb zwei, ich kaufe ein paar Sachen ein und futtere.
Ich bekomme jetzt schnell wieder Hunger. Anscheinend sind meine Fettpolster verbraucht. Dann geht es weiter. Mein Wanderführer empfiehlt, bei Nässe einen Teil des Weges entlang der Straße zu machen. Daran orientiere ich mich. Ich komme nur mühsam voran. Ob ich es noch bis Saugues schaffe?
Aber oberhalb von Monistrol d’Allier wird klar: Hier werde ich stranden und ein paar Ruhetage einlegen. Ich spüre, wie schwer es mir fällt zu akzeptieren, dass es nicht mehr geht. Mir fällt mein Hang nach Sicherheit auf. Was weiß ich sicher? Wenn ich mich weiter zwinge, komme ich voran, wenn auch nur sehr, sehr langsam. Letztlich gefährdet das auch den Gesamtplan der Pilgerwanderung. Wenn ich bleibe und Ruhetage mache, wird mein Bein wahrscheinlich wieder abschwellen und ich kann zügiger weiter. Aber das ist das Risiko: Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Zwei Tage, drei Tage oder eine ganze Woche oder vielleicht noch länger? Das bringt meinen Zeitplan durcheinander, aber ich würde wieder laufen, ohne mich zu quälen.
Ich entscheide mich, so lange zu bleiben, bis die Schwellung zurückgegangen ist und ich wieder
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