Laufend loslassen
ein Bett in der herrlich wohnlichen weißen Jurte mit ihren Holzgeflecht-Stützwänden und ihrer Filzisolierung. 15 Betten sind sternförmig wie die Speichen eines Rades angelegt, als Nabe ein großer Kleiderschrank. Wir haben das Zelt für uns zwei. Während draußen schon die Abendkühle die Hochebene erfasst, ist es innen noch mollig warm.
Freitag, 22. Juni
Schon vor sieben wache ich auf. Gerhard brennt es bald in seinen Reiseschuhen, er will weiter. Ich frühstücke gemütlich, unterhalte mich mit dem Gite-Wirt, der auch gelegentlich malt, und breche um halb neun auf. Es ist kühl, fast kalt, wolkig und windig, aber ab und zu blitzt die
Sonne durch. Immer wieder Weiden mit wiederkäuenden Aubrac-Rin-dern. Die Weiden sind übersät mit gelben Blumen.
Um viertel elf erreiche ich Nasbinals. Der Charme des Ortes ist sehr reduziert durch Baulärm wegen Straßenarbeiten im Zentrum. Ich hatte gehofft, den romantischen Ort vorzufinden, den ich von früher in Erinnerung hatte. Ich habe die Wahl zwischen Enttäuschung und Loslassen: also schon wieder Loslassen. Es ist wie es ist und richtet sich nicht nach meinen Wünschen.
Ich kaufe Brot, setze mich an das Kriegerdenkmal im Zentrum neben der alten, sehenswerten romanischen Kirche, die schon immer eine wichtige Station der Santiagopilger war, schreibe Notizen und Karten.
Um halb zwölf breche ich auf. Heute zeigt sich das Aubrac von seiner rauen Seite. Es ist kalt, ein kräftiger Wind weht. Weideland, weite, menschenleere Flächen. Ein bisschen Regen. Ich helfe einer Pilgerin aus Marseille, die sich verlaufen hat, zurück auf den richtigen Weg. Bald überquere ich den höchsten Punkt, 1368 Meter. Die Einsamkeit beeindruckt. Die Landschaft erinnert mich an Schottland oder Norwegen. Kurz vor 15 Uhr ist Aubrac erreicht, eine uralte Pilgerherberge. Ich nehme im feinen Restaurant einen Tee am flackernden Kaminfeuer, auf einem breiten Sofa sitzend. Genau genommen trinke ich einen Lapsang Souchong aus der Teekiste, die mit acht Sorten zur Auswahl gefüllt ist. Ich werde korrekt bedient. Doch es bleibt für mich ein Ort von Gastlichkeit ohne wirkliches Herz. Um vier Uhr bin ich abmarschbereit. Da es auf acht Kilometern 500 Höhenmeter abwärtsgehen soll, entscheide ich mich für die Straße und gegen den GR 65, der genauso lang ist, aber als steinig beschrieben wird. Plötzlich, ich weiß kaum warum, trübt sich meine Laune ein. Der Himmel auch und bald fängt es zu regnen an. Auf der Straße stapfe ich abwärts. Wenn St. Chely einen Campingplatz hätte, dann würde ich dort bleiben. Nach über zwei Stunden taucht St. Chely auf- und, als eins der ersten Dinge, ein Campingplatz. Na also! Ich stapfe noch weiter und finde eine Boulangerie mit Epicerie, die Lebensmittel hat. Ich trete ein und löse Entsetzen bei der alten Inhaberin aus. Sie akzeptiert meinen Rucksack nicht in ihrem Laden. Ich merke, wie ich ärgerlich werde. „Das Geld der Pilger wird akzeptiert.“, denke ich mir, „aber die Pilger nicht.“ Sie hat Angst um ihre Flaschen in den Regalen. Nach einem kurzen Disput lege ich ärgerlich meinen Rucksack auf einer Bank vor dem Laden ab und kaufe nur das Nötigste. Noch grollend verlasse ich den Laden. Doch bald wird mir klar, dass ich überreagiert habe, müde und hungrig, wie ich war. Ich werde mich entschuldigen. Auf dem Platz baue ich auf. Auf dem Campingplatz übernachtet noch ein weiterer Pilger in einem sehr kleinen Zelt. Wir unterhalten uns kurz. Es ist Bruno, wie ich später erfahren werde. Ich esse und trinke gut und merke dabei, wie müde ich bin.
Gestern Nacht in der schönen Jurte habe ich vor zwei Uhr kein Auge zugemacht. Ich verschaffe mir noch einen Überblick auf der Landkarte. Vielleicht kann ich in drei Tagen Conques erreichen. Es ist erst acht Uhr, aber ich habe schon Lust zu schlafen. Draußen aber ist es noch taghell.
Samstag, 23. Juni
Um acht Uhr bin ich aufgewacht, um zehn Uhr verschwinde ich vom Platz. Bevor ich St. Chely verlasse, entschuldige ich mich noch bei der alten Dame im Geschäft für die Überreaktion am Vortag. Sie nimmt es wohlwollend auf und meint, ich sei wohl sehr müde gewesen.
Alles geht langsam und ungeschickt heute. Irgendeine dunkle Stimmung oder eine schlechte Laune ist in mir, für die es keinen äußeren Anlass gibt. Schmerzen fast keine, die Luft kühl, aber nicht kalt, die Aussicht auf eine schöne Gegend, in die der Weg führt, aber dennoch, irgendetwas stimmt heute nicht. Vielleicht ist es das, was
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