Laufend loslassen
ausgeleuchtet wird. Oben, hoch über der Basis der Kirche im Rundgang die Kapitelle des unheimlich schönen und harmonischen Gebäudes. Ich sauge alles mit offenen Poren des Gemüts auf.
Überhaupt erscheint es mir, als sei bei der Pilgerreise zunächst ein Öffnen der Poren des Körpers an der Reihe gewesen. Schwitzen, Ausdünsten, alles auf der körperlichen Ebene loslassen. Jetzt - oder vielleicht auch gleichzeitig, ist das Öffnen der Poren der Seele an der Reihe. Die seelische Empfindsamkeit wird offen und kann alles aufnehmen. Das geschieht in dem Gefühl der Vergänglichkeit. Nichts kann auf später verschoben werden. Morgen werde ich schon woanders sein, übermorgen erst recht. Jetzt ist der Augenblick, sich berühren zu lassen. Ich lasse mich berühren, sauge die Eindrücke auf, lasse mich durchdringen. Voll innerem Reichtum kehre ich in den Schlafsaal zurück. Eine ruhige Nacht voller Glücksgefühl.
Dienstag, 26. Juni
Gegen halb sieben kommt Bewegung in den Schlafsaal, um sieben Uhr gibt es Frühstück. Ich gehe um acht noch zur Messe. Nur noch wenige Pilger sind da, die Mönche und einige freiwillige Helfer des Klosters. Ein dichter Gottesdienst, mitten im wirklichen Leben. Zum Schluss ein paar aufmunternde Worte des Priors an mich. Er hat sich von gestern gemerkt, dass ich auf dem Weg nach Santiago bin.
Ich verabschiede mich noch von den Elsässern, deren Weg hier heute zu Ende geht. Um neun Uhr breche ich auf.
Durch das Dorf hinunter ins Tal, an einer riesigen Bananenpflanze vorbei, dann über die fast 600 Jahre alte Brücke. Ein steiler, anstrengender Anstieg voll landschaftlicher Schönheit. Für einen Moment bei einer kleinen Kapelle mit dem Bildnis der heiligen Fides wird im Vorwärtsgehen der Blick zurück auf Conques möglich.
Es ist ein grauer Tag, Regen liegt in der Luft. Aber ich bin noch erfüllt von den Eindrücken des vorherigen Abends. Nichts kann mich trüben. Heute erscheint es mir, als ob alle äußeren Bedingungen, das Wetter, der Weg, wenn er schlecht und anstrengend wird, mein Inneres nicht wirklich berühren können. Die inneren Stimmungen fließen aus einer anderen Quelle. Es kommt mir vor, als sei in mir ein See von tiefer Freude entstanden, der diese Quellen speist. Das Äußere wird gleichgültig, nicht unwichtig, aber nicht mehr bestimmend.
Bald setzt stärkerer Regen ein, nun, dann laufe ich eben im Regen. In Nouillac lege ich um halb zwölf eine Pause ein, trinke Tee, unterhalte mich mit einem Paar aus Schwaben, das noch bis Figeac will und danach noch eine Woche Urlaub am Meer machen möchte. Dann geht es weiter. Ich bitte meinen Schutzengel, mich vor weiterer Nässe zu bewahren. Immer wieder heftige Regenschauer, aber der Pakt mit meinem Schutzengel funktioniert. Einmal finde ich eine kleine Holzhütte für eine Rast, kurz bevor heftiger Regen ausbricht, eine Stunde später eine Garage im Bau, später die Kirche von Agnac. So erreiche ich um 18.30 Uhr mein Etappenziel Livinhac, ohne durchnässt zu sein. Mich begrüßen vier Franzosen, mit denen ich in Conques beim gestrigen Abendessen an einem Tisch gesessen habe.
Sie zeigen mir den Gite. Fritz und Ulrike aus Bamberg sind auch schon da. Gestern waren sie auch in Conques in der Herberge. Wir essen zusammen zu Abend und teilen unsere Erlebnisse und Erfahrungen auf dem Weg bis spät in die Nacht. Ich habe ein Fünferzimmer für mich allein. Durchs Fenster scheint der beleuchtete Turm der Kirche von Livinhac. Tief zufrieden, müde, aber nicht im Mindesten ausgelaugt, gehe ich zu Bett.
Mittwoch, 27. Juni
Ich wache um halb sieben auf, gut ausgeschlafen, frühstücke mit zwei Franzosen, darunter Bruno, den ich in St. Chely zum ersten Mal getroffen habe und der auch in Golinhac mit mir in der Herberge war. Draußen regnet es leicht. Ich kaufe noch ein Brot und vor allem einen billigen Regenumhang, den es im Lebensmittelladen neben dem Gite gibt. Die Wirkung des Umhangs ist verblüffend. Von Minute zu Minute wird das Wetter besser. In Montredon, nach eineinhalb Stunden, kommt sogar die Sonne heraus. Der Weg ist leicht und angenehm, aber die Dörfer haben hier nicht den Charme wie in früheren Landschaften. Sie wirken moderner, aber dafür auch uniformer. Der Weg nach Figeac zieht sich lange hin. Irgendwie ist heute nicht mein stärkster Tag. Die linke Schulter schmerzt, ich habe Hunger, mache Rast, strebe weiter.
Ein kleiner Stopp in der Friedhofskapelle von Guirande. Der Chor aus dem 13. Jahrhundert zeigt
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