Laufend loslassen
Paulo Coelho in seinem Buch über den Jakobsweg „dem Dämon begegnen.“ genannt hat. Es muss ja nicht immer ein äußerlicher Dämon sein. Mir ist eine solche Stimmung nicht unvertraut, ich weiß jedenfalls, dass ich mit dieser seelischen Unstimmigkeit, einer inneren Aggressivität, lange Zeit meine Umgebung und sicher auch mich selbst vergiftet habe. Hier will ich sie jetzt erforschen, woher sie kommt, wie sie wirkt und wie sie sich vielleicht in einen positiven Dienst verwandeln lässt.
Der Rucksack ist wieder zu schwer. Das Zelt nass eingepackt vom nächtlichen Regen, eine Flasche Wein dabei, dazu Brot, Bananen und Käse. Das bringt zusätzliches Gewicht und die Schultern ziehen. Ich entschließe mich, die Bananen einfach gleich zu essen.
Wieder ein drei viertel Kilo weniger auf dem Rücken.
Hunger habe ich jetzt ständig, nachdem wohl die eigenen Polster aufgebraucht sind. Hinter Lestrade fällt der Weg. Erst bequem, später auch steinig, geht es abwärts. Die Vegetation ändert sich, die Wälder sind voller Maronenbäume. Herrlich grünes Licht umgibt mich.
Die düstere Stimmung hellt sich langsam auf. Mir kommt die Idee, dass sie etwas mit dem Übergang zu tun haben könnte. Das Alte - Aubrac - ist nicht mehr, das Neue - Vallée du Lot - hat mit seiner neuen Landschaft noch nicht angefangen. Ob ich auf diese (und andere!?) Übergangsphasen mit innerer Düsterkeit reagiere? Je mehr sich die Landschaft zum Neuen hin klärt, desto heller wird es wieder in mir. In der Phase vorher merkte ich, wie mein Blick sich einschränkt, Schönes nicht mehr durchdringt, alles geeignet ist, Ärger auszulösen. Wie sogar freundliche Grüße anderer Wanderer eher als lästig erlebt werden.
Um zwei Uhr, es kann nicht mehr weit bis St. Côme sein, werde ich hungrig. Also Rast. Anschließend geht es gut weiter. Um drei erreiche ich das Städtchen, schaue mir die gotische Kirche aus dem 16. Jahrhundert an, kaufe Brot und schreibe einen Brief bei einer Tasse Kaffee. Danach fühle ich mich so frisch, dass ich ohne Müdigkeit den Weg wieder aufnehme. Über eine im Umbau befindliche Brücke überschreite ich den Olt oder Lot. Das Sträßchen, dem ich folge, hält sich links vom Lot und folgt ihm flussabwärts. Gegen 19.30 Uhr taucht die Burg von Espalion auf und bald auch der Campingplatz. Es ist angenehm warm, ohne heiß zu sein. Ich erreiche erstaunlich munter mein Etappenziel. Abends bei einem Bummel durch die Altstadt treffe ich die Bamberger, die am notwendigen Ruhetag an mir vorbeigezogen sind. Wir unterhalten uns, bis gegen 24 Uhr in dem Straßencafe die Tische weggeräumt werden. Die Nacht ist kalt, Halbmond, sternenklar. Ich wache mehrmals auf, weil ich friere, bis ich mir endlich die dicke Fleecejacke anziehe.
Sonntag, 24. Juni
Ich wache erst um neun Uhr auf, der Campingplatz ist recht still. Bis elf Uhr bin ich schließlich abmarschbereit. Eigentlich ist es mir zu spät für die lange Etappe von 27 Kilometern, die ich heute vorhabe. Also beschließe ich, um Zeit zu sparen, die Straße am linken Lotufer zu nutzen. Außerdem werden Besichtigungen vorläufig gestrichen. Schade um die kleine romanische Kirche St. Pierre, aber mir ist jetzt nicht nach Anhalten zumute. Es ist warm, später schwül, ein Gewitter hängt schwarzblau im Süden am Himmel. Es erwischt mich mit ein paar Tropfen, als ich schon das Ortsschild mit Burg und Kirche von Estaing fotografiert habe.
Der Ort wird von einer mächtigen Burg mitten im Städtchen dominiert. Vom GR 65 führt eine alte Brücke, früher für die Jakobspilger gebaut, mitten in die Stadt. Ich stärke mich mit einem Café au Lait und gebe dem Gewitter die Chance, sich abzuregnen. Aber es will nicht. Hinter Estaing führt der Weg lange am Lot entlang. Ich liebe dieses Tal, das ich von früheren Urlauben kenne. Dann steigt der Weg an, vorbei an mehreren Bauernhöfen. Gewitter rundum. Jetzt erreichen die Schauer auch mich, aber ich lasse mich nicht mürbemachen. Langsam, aber sicher komme ich voran, die Landschaft erinnert auf den Höhen wieder an Burgund, an den ersten und zweiten Tag. Gegen 20 Uhr erreiche ich Golinhac, entscheide mich, weil es nass ist und weiterer Regen droht, für den Gite und gegen den Campingplatz. Ich begegne anderen, die die gleiche Entscheidung getroffen haben, darunter Bruno, den ich vor zwei Tagen erstmals getroffen habe. Beim Abendessen unterhalte ich mich mit ihm über die Beweggründe unseres Pilgerns. Auch er hat eine Trennung hinter sich
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