Laufend loslassen
mir nicht nur meinen Kaffee bringt, sondern, als sie meine Salbe und mein Bein sieht, auch Anteil nimmt an meinem Schicksal. „Haben Sie Probleme mit dem Bein?.“, will sie wissen und ein kundiger Blick genügt. „Das ist geschwollen.“, meint sie.
Um fünf ziehe ich weiter, komme gut voran, herrliche Weiler am Weg, die noch etwas Ursprüngliches haben, wie ich es aus der Zeit meiner Kindheit auch von fränkischen Bauernhöfen kenne. Da darf noch etwas wachsen, da ist noch nicht alles mit Verbundsteinpflaster verunstaltet, da liegt noch altes landwirtschaftliches Gerät herum, rostet ein Traktor, der ausgedient hat, vor sich hin und so mancher, der unterwegs ist, wäre bei uns schon auf dem Schrott.
Hier erfüllt er seinen Zweck.
Am Abend gegen 19.30 Uhr erreiche ich Falset und den Gite d’etape, auf den ich gesetzt habe. Es sind tatsächlich noch Betten frei. Zwei Franzosen, er aus Annecy und sie aus Rodez, sitzen beim Abendessen und teilen mit mir. Gegen 21 Uhr kommt dann noch ein junger Slowene dazu, der in Schleswig-Holstein wohnt und in München gestartet ist, um nach Santiago zu gehen.
Der Gite ist gemütlich eingerichtet und ich fühle mich wohl.
Was ich im Rückblick auf gestern und heute sagen kann: Santiago zieht. Mich hat es nicht länger im Krankenstand gehalten. Während ich die ersten Tage der Pilgerfahrt noch den Eindruck hatte, ich will nach Santiago, spüre ich jetzt, wie er, Jakobus der Fischer, mich längst an der Angel hat, an einer immer noch fast 1500 Kilometer langen Angelschnur, aber das Ziehen ist deutlich zu spüren. Wenn auch mein Leib sich noch etwas sträubt, der Geist hat längst eingewilligt in dieses Angezogenwerden.
Mittwoch, 20. Juni
Für meine Verhältnisse ungewöhnlich früh bin ich um acht Uhr abmarschbereit, mit Frühstück im Magen. Als ich vor die Tür des Gite gehe, kommt da ein Pilger an, den der Slowene aus Schleswig-Holstein schon kennt. Es stellt sich heraus, dass wir alle drei Gerhard heißen. Ich erinnere mich nicht, schon einmal mit zwei Gerhards zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammen gewesen zu sein. Die beiden starten, ich folge eine Viertelstunde später. Im Tal hängen die letzten Morgennebel, dann kommt die Sonne. Der Weg führt in sanftem Auf und Ab an Wiesen und Viehweiden vorbei und durch Wald. Einmal begegnen mir zwei Pferde, einmal eine kleine Kuhherde, von einem Cowboy auf dem Motorrad vorbeigetrieben. Ein Stückchen weiter in Les Sauvages ein Bauernhof mit Gite und herrlichen Rastmöglichkeiten auf großen Granitblöcken. Dort gibt es ein Wiedersehen der drei Gerhards bei einer Rast. Gerhard von der Mosel ist gesprächig. Da er ungefähr mein Tempo läuft, bleiben wir eine Stunde zusammen. Er erzählt mir wortreich seine Lebensgeschichte, will auch meine hören, die ich weniger wortreich in Teilen erzähle. Bei der Rochuskapelle will ich eine Viertelstunde meditieren, um meine Ruhe zu haben, leider ist sie zu. Gleich nebenan ist ein kleines Refugio, in dem ich mir eine Zeit der Sammlung gönne. Ich spüre, dass zu viele Worte mich erschlagen und ich ein wenig Abstand brauche. Ich blättere in den Seiten des Refugio-Hausbuchs und finde Eintragungen von Menschen, die in den letzten Wochen da waren und auch auf der Suche nach sich oder nach Sinn sind. Eine, in Deutsch geschrieben, spricht mich besonders an. Sie ist vom 25. Mai und lautet:
„LEBEN – LIEBEN - LEIDEN
LERNE LOS - LASSEN
Cecile. „
Hier hat vor weniger als einem Monat eine Pilgerin gesessen, deren Motiv für ihre Pilgerreise wohl dem meinigen gleicht. Ich fühle mich mit ihr solidarisch verbunden, auch wenn ich sie nicht kenne und wohl auch nie im Leben kennenlernen werde. Die Worte prägen sich mir ein wie ein Mantra.
Um halb fünf erreiche ich dann St. Alban sur Limagnole, die Schultern tun mir weh, sodass ich froh bin, mich bei einem Kaffee stärken zu können. Später kommt noch ein Karlsruher Mountainbiker dazu, der von zu Hause nach St. Jean Pied de Port unterwegs ist. Wir tauschen Erfahrungen aus, er erzählt von seinen zwei Besuchen in Bamberg und ich empfehle ihm das Tal des Flüsschens Céle. Er lädt mich zu einem Bier ein, das wir auf das Gelingen unserer Unternehmungen trinken. Gegen halb sieben fühle ich mich gestärkt und gehe weiter, will Estrets vielleicht noch erreichen. Auf halber Strecke rutsche ich aus, kippe um, schlage mit dem Ellbogen auf, gehe weiter. Es kann nicht mehr weit nach Les Estrets sein, da ziehen Gewitter so nahe,
Weitere Kostenlose Bücher