Laufend loslassen
dass einige Tropfen fallen. Es taucht plötzlich eine kleine Waldhütte auf, aus Stämmen und dicken Ästen gebaut, mit dichtem Moosdach. Ginstergeflecht bildet die Wände, innen Heu, ein kleiner Tisch. Sofort beschließe ich, hierzubleiben und verbringe den Abend und die Nacht in dieser urigen Bleibe.
Donnerstag, 21. Juni
Um halb acht weckt mich Vogelgesang und ich bin beim Zusammenpacken, als der Mosel-Gerhard vorbeikommt. Er beglückwünscht mich zu der schönen Unterkunft, die ich gefunden habe. Er selbst hat vor dem Gewitter Unterschlupf bei einer Familie gefunden. Während er weiterwandert, frühstücke ich und will gerade aufbrechen, da kommt die Französin aus Rodez vom vorletzten Abend vorbei und bestaunt meine Unterkunft. Ein bisschen später, es ist Viertel vor neun, bin ich unterwegs. Leider komme ich nur langsam voran. Mir scheinen mein Morgenkaffee und ein ordentliches Frühstück zu fehlen. Der Weg ist gut und gewährt eine fantastische Fernsicht auf Wiesen, Weiden und Wälder. Es ist trotz der Sonne kühl bei ein paar Wattebäuschen am blauen Himmel. Einige Wanderer überholen mich, eine rüstige Rentnergruppe aus Schwaben, und ich lasse sie ziehen. Es ist fast zwölf Uhr, als ich Aumont-Aubrac erreicht habe, um mich dort erst einmal mit einem großen Café au Lait aufzubauen. Der Ort ist ruhig, ab und zu ein paar Wanderer. Ich schreibe Karten und mache ein paar Notizen und gönne mir eine Stunde Ruhe. Die Schultern schmerzen leicht, der Rucksack ist durch die Wanderstiefel wieder zu schwer. Aber das kann ich im Augenblick nicht ändern, ich kann zurzeit nur in Sandalen laufen. Auf das Gebiet, in dem ich gerade wandere, habe ich mich schon im Voraus gefreut. Ich kenne Nasbinals, den nächsten größeren Ort in etwa 20 Kilometern Entfernung, von früheren Reisen und habe dort schon Jakobspilger im August bei zehn Grad Celsius und strömendem Regen gesehen. Dass ich so herrliches Wetter habe, empfinde ich als ein Geschenk. Es ist ein fast menschenleeres Hochland, durch das der Weg führt, von Pilgern früherer Zeiten gefürchtet, im Winter oft tief verschneit.
Heute bin ich ganz offen für die Schönheit der Natur. Ich habe das Gefühl, dass diese Weite, diese Ruhe Balsam ist für meine Seele, dass etwas in mir still werden kann dabei und dass die Sorgen, die mich zu Hause plagen, sich immer mehr auflösen. Daheim hatte ich oft das Gefühl, leer zu sein, ausgelaugt, erschöpft. Aber, das wird mir mehr und mehr klar, ich war nicht leer. Ich war voll, voller Sorgen, voller Mutlosigkeit, voller Enttäuschung, voller Resignation. Je länger ich laufe, desto mehr erkenne ich, dass mein inneres Gefäß erst wirklich leer werden muss, um mit etwas Neuem gefüllt werden zu können.
Ich muss diese Sorgen, diese Mutlosigkeit, diese Enttäuschung und die Resignation ausschütten und loslassen wollen. Ich muss bereit werden, die Identifikation mit diesen Gemütszuständen aufzugeben.
Die Weite und Leere dieser mich umgebenden Landschaft und der Prozess des ständigen Weitergehens scheinen auf geheimnisvolle Weise auch in mir eine neue Weite und eine offene Leere zu schaffen, nach und nach.
Je länger der Weg geht, desto einsamer und großartiger wird die Landschaft. Ein Gebirgsrücken, große Findlingsblöcke, lange, hohe Steinmauern um riesige Weiden und ein schier unendlicher Blick. Im Ort Les 4 Chemins treffe ich den Mosel-Gerhard und die Französin aus Rodez wieder. Für sie ist ihre fünftägige Wanderung vorbei, hier wird sie von ihrem Mann abgeholt. Wir trinken alle drei ein Bier, unterhalten uns ein wenig, wobei ich als Dolmetscher fungiere und mal in die eine Richtung in Französisch und dann in der anderen in Deutsch mich am Gespräch beteilige. Gerhard bricht dann auf, ich bleibe noch ein wenig. Ich finde ihn wieder in Fineyrois, am Picknickplatz am Ende des Ortes, beim Abendessen. Ich geselle mich dazu, wir essen beide unser Abendbrot. Ich will noch weiter nach Rieutort d’Aubrac, wo es einen Gite d’etape in der Form einer mongolischen Jurte geben soll. Auch Gerhard findet die Idee, dort zu schlafen, interessant, sodass wir die letzte Stunde bis 21 Uhr zusammen durch die von der schräg stehenden Sonne wunderbar beleuchtete Hochebene wandern.
Bei den Jurten werden wir etwas verwundert registriert. Es sei schon nach 18 Uhr und das sei die reguläre Zeit zum Ankommen. „Wir wandern immer ganz irregulär.“, gebe ich mit einem Schmunzeln zu verstehen. Schließlich bekommen wir doch
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