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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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Schienbein, langsamer erreiche ich schließlich den Campingplatz, der etwa einen Kilometer lotaufwärts liegt. Ich baue auf, esse ordentlich. Dann reitet mich doch noch der Teufel. Um halb zehn laufe ich noch einmal nach Cahors hinein, schaue mir die nächtliche Stadt an, die den Charme aller alten Städte an einem warmen Sommerabend hat. So kann man leichter darüber hinwegsehen, dass die meisten Häuser der Altstadt einen etwas renovierungsbedürftigen Eindruck machen. Für einen Samstagabend bei 23 Grad ist es vergleichsweise ruhig. Ich spüre mein Bein immer mehr und humple gegen Mitternacht zurück zum Campingplatz. Also mindestens 35 Kilometer gelaufen heute. Ganz vernünftig werde ich wohl nie!
     

Sonntag, 1. Juli
    Um halb acht wache ich auf. Heißluftballons, Montgolfieren, wie sie in Frankreich heißen, sind direkt über dem Platz, zum Teil so tief, dass man m eint, sie bleiben an den Bäumen hängen. Ihre Heizflammen rauschen vernehmlich. Ja, das habe ich auf einem Plakat in Figeac gelesen, dass es an diesem Wochenende ein Treffen von 40 Montgolfieren gibt. Hier also erlebe ich das ganz nah. Ich bestaune das sanfte Gleiten eine Zeit lang. Dann gibt es Frühstück und um halb zehn ist Aufbruch. Keine schlechte Zeit für eine Nacht im Zelt.
    Ich durchquere die Stadt. Sie liegt noch im Sonntagsvormittagsschlaf. Wenige Leute sind unterwegs. Im Dom, in dem ich kurz verweile und dessen farbige Glasfenster ich bewundere, spielt die Orgel. Vor dem Dom ein paar Obst- und Gemüsehändler. Dann geht es zur Valentré-Brücke, dem Wahrzeichen der Stadt mit ihren drei die Brückenbreite überspannenden Wehrtürmen. Diese Brücke ziert den Wanderführer, der mich seit Tracol gut informiert. Ein paar Touristen sind unterwegs, bestaunen den Pilger. Ich glaube, ich werde sogar von hinten fotografiert. Am Beginn des Steilaufstiegs am anderen Ende der Valentré-Brücke ein Schild. 1184 Kilometer bis Santiago. Also 59 1/5 Tage. Ich habe noch 59 Tage, also bin ich jetzt ganz dicht dran an meinem Zeitrahmen. Endlich! Jetzt brauche ich nicht mehr als knapp über 20 Kilometer täglich zu laufen, oder, wenn mehr, hole ich Ruhezeit herein. Ich merke, wie mich diese Rechnung beruhigt. Ich werde, wenn alles so weiterläuft, wirklich den ganzen Weg laufen können.

    Der Anstieg zum Aussichtspunkt oberhalb der Brücke ist hart, dann geht es nur leicht ansteigend weiter. Mir fehlt mein Morgenkaffee, ich komme nur sehr langsam voran. Vielleicht habe ich mir gestern wieder einmal zu viel zugemutet. Der Weg schlängelt sich um eine Autobahn herum, scheint mal vor und wieder zurück zu gehen, was nicht dazu beiträgt, dass ich das Gefühl habe, beim Laufen wirklich voranzukommen. Der Tag ist trüb, der Himmel verhangen, nur ein merkwürdig gedämpftes Licht, das absolut nicht zulässt, auch nur zu schätzen, wie spät es sein könnte oder wo die Sonne soeben steht. So sind bei uns Novembertage. Um halb drei erreiche ich Labastide-Marnhac, lange ausgeschildert, heiß ersehnt. Wasserhahn an der Kirche, Klo am Ortsrand, ein neues Bürgermeisteramt mit großer Aufschrift „Liberté, Egalité, Fraternité.“, dem Leitgedanken der Französischen Revolution von 1789 - aber keine Bar, kein Café. Also trinke ich Wasser und schleiche langsam weiter. Der Rucksack ist schwerer als sonst. Eine halbe Flasche Wein von gestern ist noch drin, das Zelt ist nass von einem kurzen nächtlichen Schauer und mein Jeanshemd, gestern gewaschen, hängt noch ziemlich feucht und schwer außen dran.
    Irgendwann habe ich keine Lust mehr. Bei einer Rast mitten auf einem abgeernteten Feld kommt der Wein dran. Die leere Flasche bleibt verwaist zurück. Das Jeanshemd ziehe ich an. Es soll am Körper trocknen und das tut es schließlich auch.
    Kurz vor Hospitalet werde ich doch noch mit einem Kaffee gestärkt. Ein Landwirt hat Kaffee- und Kaltgetränke-Automaten und Sitzbänke für die Pilger aufgestellt. Pilger? Heute scheine ich der einzige zu sein. Nur Fußspuren an den feuchten Wegstellen zeigen, dass auch sonst noch Leute hier laufen. Ich gehe weiter bis Hospitalet - und merke, dass ich falsch bin, die Markierung dieser Alternativstrecke in Gegenrichtung gelaufen bin. Nach Lascabanes, wo ich hinwill, waren es vorhin achteinhalb Kilometer, jetzt sind es wieder über zehn. Ein schönes, rosenumranktes Feldkreuz am Rande des Ortes belohnt den Umweg. Ansonsten sehe ich nur zwei Jugendliche, die den Pilger, der mal hierhin und mal dorthin läuft, verwundert

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