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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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bewährten Mittel. Ich will mir ja nicht den Tag verderben lassen.
     
    Kurz hinter dem Hotel stoße ich auf Durfort-Lacapellette. Zum ersten Mal bin ich unzufrieden mit meinem Wanderführer. Hätte ich gewusst, dass es nur noch ein halber Kilometer zu dem Ort ist, hätte ich ihn gleich angesteuert, hier Rast gemacht und mir den zwar freundlich servierten, aber völlig überteuerten Café au Lait im Hotel gespart. Also kaufe ich ein, auch Pulverkaffee in kleinen Tüten, um die ständige Café-Geherei, die ins Geld geht, etwas zu reduzieren. Am Kriegerdenkmal halte ich Rast.
    Die Wegführung am Ende des Ortes ist verwirrend, ich stolpere über abgemähte Wiesen und Felder, kehre zur Straße zurück, von der ich abgebogen bin.
    Irgendwie ist zurzeit der Wurm drin. Ich komme nicht gut voran, und, ich kann es nicht anders sagen, Moissac, die nächste größere Stadt, zieht mich nicht. Das mag daran liegen, dass sie auf der Landkarte nach vielen Straßen und Verkehr, Autobahn und Industrie aussieht. Erst als ich lese, dass die Abteikirche mit Kreuzgang Weltkulturerbe ist, hellt sich das Bild wieder etwas auf. In St. Martin de Durfort fängt es dann auch noch zu regnen an, das in Livinhac erworbene Regencape „Made in China.“ zerreißt schon bei seiner ersten Bewährungsprobe und landet im nächsten Müllcontainer. Der Regen ist leicht und dünn, ich lasse das Jeanshemd an, das sich langsam vollsaugt, und kämpfe mich auf einem Trampelpfad neben der Landstraße entlang.
    Als der Weg endlich abzweigt, sehe ich Chancen für einen Zeltaufbau, aber außer sumpfigen Wiesen und eindeutigem Privatgelände ist nichts zu finden. Der Weg steigt wieder, führt zu einer kleinen Straße; Bauernhöfe, ein Wald. Überall Schilder: „Privée. Defense d’entrer!.“ Wegen der dichten Bewölkung ist es fast dunkel. Ich bin gespannt, wie der Tag endet, aber ohne innere Unruhe. Endlich, als ich die Aussicht auf eine Zeltmöglichkeit schon fast aufgegeben und mich auf eine Nachtwanderung eingestellt habe, kommt an der Straße ein Lagerplatz für Sand und Kohlenstaub, hoch aufgeschüttete Hügel. So sieht es jedenfalls aus. Als ich näher komme, sehe ich, dass es Sägemehl ist, wohl von einer Holzhandlung oder Schreinerei hier aufgeschüttet. Einige der Hügel sind frisch, andere, wohl an der Oberfläche einmal angezündet gewesen, schwarz wie Kohle. Um sie herum hüfthohes, verkrautetes Gras. Schuhe und Hose sind klitschnass, bis das Zelt endlich steht, gut gegen Sicht geschützt und mit einem weichen Polster von dickem Gras unter dem Boden. Es ist neun Uhr. Ich esse zu Abend, reichlich ausgestattet wie ich bin, und genieße die weiche Unterlage.
    Ich staune über mich selbst, wie wenig Sorgen ich mir gemacht habe, als keine Übernachtungsmöglichkeit in Sicht war. Das innere, mit Mut- und Hoffnungslosigkeit gefüllte Gefäß scheint ausgeschüttet und sein alter Inhalt wirklich losgelassen zu sein. Jetzt füllt es sich allmählich mit etwas Neuem: mit Vertrauen ins Leben.
     

Mittwoch, 4. Juli
    Als ich um sieben Uhr im Zelt aufwache, regnet es leicht. Also langsam frühstücken. Der Regen verstärkt sich, draußen ist alles dunkelgrau.
    Ich fasse den Entschluss, notfalls zu warten. Ich vervollständige meine Notizen, schaue mir die Landkarte an und merke, dass der Wanderführer nach Moissac eine Strecke von fast zehn Kilometern entlang des Treidelpfades am Garonne-Seitenkanal empfiehlt, was ich sehr attraktiv finde. Kurz nach halb neun kommt die Sonne durch. Jetzt also zusammenpacken und los. Schon nach wenigen Hundert Metern treffe ich am Kirchlein von St. Espis auf einen älteren französischen Pilger aus Marseille, der in diesem Jahr die Etappe von Conques bis Moissac macht, jetzt also bald am Ziel ist. Wir laufen ein paar Kilometer miteinander. Kurz vor dem Ortsschild von Moissac trennen wir uns, er macht Pause, ich laufe weiter.

    Der Weg führt dann durch das, was heute die Ankunft in Städten hässlich macht: Autowerkstätten, Bau- und Gartenmärkte, Einkaufshallen, Industrieanlagen. Nach einer halben Stunde werden die Läden kleiner. Was mir auffällt, ist der Gestank der Autos. Nach so vielen Tagen in der Natur riechen die Abgase penetrant. Sicher ist das zu Hause auch so, aber hier merke ich den Kontrast. Dabei ist es sogar windig, die Abgase müssten eigentlich weggeblasen werden. Eineinhalb Stunden nach dem Aufbruch erreiche ich das frühere Kloster im Herzen von Moissac.
    Das Erste, was mir in die Augen sticht, ist das

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