Laufend loslassen
riesige Tympanon mit Christus im Zentrum und den 24 Weisen aus der geheimen Offenbarung des Johannes, in den Ausmaßen noch größer als das in Conques, wenn auch einfacher strukturiert. Dann betrete ich den Kreuzgang. Ich habe wirklich schon viele romanische Kreuzgänge gesehen, aber was die Größe betrifft, noch keinen wie diesen. 76 Arkadenbögen, jedes Kapitell reich geschmückt, das ist ein tiefer Eindruck. Wie muss es erst den Pilgern vergangener Jahrhunderte gegangen sein in einer Zeit, die nicht so voller Bilder war wie die unsere, wenn sie nach tagelanger Pilgerschaft durch die Natur und nichts als Natur dann auf diesen darstellenden Reichtum trafen. Sie, mit den biblischen Themen wahrscheinlich vertrauter als die meisten von uns, fanden in den Darstellungen eine Bibliothek in Bildern vor. Ich staune und schaue, steige auch in den Turm der Kirche, dessen Bogenstreben mich faszinieren. Erst nach zwei Stunden trenne ich mich von dieser Schönheit. In der Kirche hat mich noch eine Darstellung der Flucht nach Ägypten aus der Gotik beeindruckt.
Mir kommt dabei eine Begegnung in den Sinn, die ich einmal in der Wüste in Tunesien hatte. Mitten in der öden Landschaft hatte ich nachts neben dem Auto geschlafen. Beim Aufwachen im allerersten Morgenlicht kommt plötzlich ein Mann vorbei, der einen Esel führt. Auf dem Reittier eine verhüllte Frau mit einem kleinen Kind. Ein Bild wie aus der Bibel.
Dann kommt ein schöner Weg entlang des Canal entre les deux meres, der Atlantik und Mittelmeer verbindet. Der frühere Treidelpfad ist als Fahrradweg ausgebaut und führt auf lange Strecken im Schatten alter Platanen. Ich liebe alte Kanäle und Flüsse, erfreue mich an den Hausbooten, die ab und zu vorbeikommen und laufe zügig und in bester Stimmung. Was mich der Weg mehr und mehr lehrt, ist, eine innere Freude an den Dingen zu gewinnen, die erhalten bleibt, auch wenn mal wieder Schmerzen auftauchen. Wach und doch gleichzeitig im Gehtrott komme ich voran und trenne mich um sechs Uhr mit leisem Bedauern in Pommervic vom Kanal. Nachdem es dort, anders als ein Schild verkündet, doch keinen Campingplatz gibt, laufe ich noch nach Espalais und überquere auf einer eindrucksvollen Hängebrücke den wohl mächtigsten Fluss der Pilgerreise, die Garonne. Auf meine Frage am anderen Ufer, der „Unterstadt.“ von Auvillar, nach einem Campingplatz verweist mich eine nette Madame auf die parkartige Uferwiese und auf den Wasserhahn neben der Vierge, einer Marienstatue mit Jesuskind, ganz in Weiß und überlebensgroß, die mitten in dieser kleinen Parkanlage steht. „Bleiben Sie doch einfach hier, das ist kein Problem.“, lädt sie mich ein.
Ich baue mein Zelt fast unter der Brücke auf und bin froh, den Abend direkt an der Garonne verbringen zu können. Wie gesagt, ich liebe Flüsse. Immer wenn ich das leise Rauschen und Gluckern der Strömung höre, erinnere ich mich an den Fährmann Vasudeva aus Hesses „Siddharta.“, der die Weisheit seines Alters aus den vielen tausend Stimmen des Flusses geschöpft hat. „Der Fluss weiß alles und du kannst alles von ihm lernen.“, sagt er einmal zu Siddharta. Der Fluss hat ihn gelehrt, dass es keine Zeit gibt, nur ein einziges Jetzt. Und dass der Strom alle zehntausend Stimmen der Schöpfung in sich vereint und alle in einem einzigen Laut zusammenklingen, dem heiligen „Om.“. Dann lausche auch ich mit besonderer Hingabe.
Donnerstag, 5. Juli
Der Verkehr auf der Brücke weckt mich bald, aber ich breche dennoch erst um zehn Uhr auf. Es sind starke Zahnschmerzen, die mich lähmen. Vom Garonneufer steige ich hinauf nach Auvillar, einem hübschen Städtchen mit einem Platz in der Mitte, auf dem eine runde Markthalle steht. Dort stehen Tische mit Gläsern, irgendein Fest wird vorbereitet. Plötzlich taucht Militär auf und es stellt sich heraus, dass um elf Uhr irgendeine militärische Kommandoübergabe feierlich zelebriert wird, und zwar gleich nebenan auf der Aussichtsterrasse hoch über der Garonne. Das will ich mir anschauen, obwohl Militär an sich wirklich nichts ist, was mich hinter dem Ofen hervorlocken kann. Ich nutze die Zeit, hole mir meinen Stempel, schaue mir die Kirche an und dann geht es schon los.
Musik aus der Stereoanlage, aber die Soldaten sind echt. Ein kompliziertes Ritual, jeder Schritt, jeder Handgriff eingeübt. Zwei Soldaten bekommen Orden. Immer wieder „Stillgestanden!.“, „Präsentiert das Gewehr!.“, „Rührt euch!.“ Akkurat, zackig.
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