Laufend loslassen
zu laufen, morgen werde ich weiterziehen. Mir kommt der Gedanke, dass die sesshafte Lebensweise uns Dauer und Beständigkeit vortäuscht. Nichts ist beständig. Oft denke ich mit Bedauern, wie schnell die Jahre der Kindheit meiner Tochter vorbeigegangen sind, ja, auch die 25 Jahre meiner Ehe ins Vergangene verschwunden sind. Was ist die Konsequenz daraus? Ganz offen für den Augenblick zu sein, das Erforderliche zu geben und zu nehmen. Zu wissen, dass es auf dem Weg des eigenen Lebens keinen Schritt zurück gibt, nur ein Vorwärts. Es ist ein Gedanke, der etwas Hartes, Konsequentes hat, eine gewisse Unerbittlichkeit. Wir wissen, wohin der Weg für uns letztlich führt, zum letzten Einwilligen in das Vorwärts, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Heute bin ich einen Monat seit Bamberg unterwegs.
Freitag, 29. Juni
Um halb acht weckt mich Vogelgezwitscher. Ich frühstücke gut mit dem schmackhaften Holzofenbrot von gestern und breche nach zwei Stunden auf. Zunächst nehme ich die Straße am Fluss entlang bis Marcilhac sur Celé mit seiner Klosterruine. Während ich Kaffee trinke, tauchen zunächst Bruno und wenig später Francois auf, die ich gestern überholt habe. Sie ziehen weiter. Es ist schon zwölf Uhr vorbei, als ich den Berghang hinaufsteige. Oft geht es auf einem sehr schmalen Pfad zwischen Buchsbaumhecken hindurch, deren aromatischer Duft die Luft erfüllt, mal ist der Boden sehr steinig. Es gibt sehr steile Abstiege und lange Anstiege. Kurz, es ist ein hübscher Weg, aber langsam und meinem angeschlagenen rechten Bein nicht allzu bekömmlich. Ich habe wohl gestern doch etwas übertrieben. Heute muss ich es büßen. Sauliac sur Célé lasse ich aus und kürze auf einem Weg für Reiter zweieinhalb Kilometer ab. Vorbei geht es auch an Cusals, einem Museumsdorf.
Gegen Abend wäre ich gerne noch etwas weiter, aber meine Müdigkeit und mein rechtes Bein signalisieren klar: Schluss für heute! Ein Lied aus Jugendtagen, K. A. Christel hat es geschrieben, kommt mir in den Sinn:
„Die Dämmerung fallt, wir sind müde vom Traben.
Die Straßen, sie haben der Steine gar viel.
Lasst sie für heute allein.
Es ist uns bestimmt, mit brennenden Füßen
die Unrast zu büßen, die tags uns ergriff.
Bald, Kameraden, ist Ruh.
Wer weiß, wo der Wind uns morgen schon hinweht,
wo keiner mehr mitgeht, der Bruder uns ist,
bald sind wir alle allein. „
Als ich den Gite bei Espinière erreiche und ihn mir etwas genauer anschauen will, kommt Francois aus dem Haus. Ich ziehe ein, wasche ein paar Sachen und plane die Route für morgen. Da kommt Bruno des Weges. Also haben wir drei die gleiche Zwei-Tages-Bilanz. Ich freue mich, die beiden wiedergetroffen zu haben. Der Ort, wo ich gerade bin, mitten in der Stille und Einsamkeit, ist zugleich die Geschäftszentrale von Cap Liberté, einem französischen Veranstalter von Mountainbikereisen weltweit, stellt Francois staunend fest. Sein Sohn hat kürzlich mit diesem Reiseveranstalter eine Tour in Südamerika unternommen.
Der Gite ist ungewöhnlich. Die Besitzerin hat ihre Privaträume, Wohnzimmer und Küche, den Gästen geöffnet. Nur Schilder an den entsprechenden Kühlschränken geben Hinweise, was privat und was öffentlich ist. Mich rührt das tief an. Weiß ich doch, wie schwer es mir selbst fällt, andere in meinen Privatbereich eindringen zu lassen. „My home is my castle.“ ist ein Satz, der gut zu mir passt. Hier diese Offenheit, diese Gastfreundschaft. Als ich später noch darüber nachdenke, kommt mir ein modernes Kirchenlied in den Sinn, das ich dann innerlich für mich aufklingen lasse: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich, wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich.“
Der Schlafraum ist im Dach einer früheren Scheune. Der alte, grob behauene Dachstuhl ist sichtbar und gibt dem Ganzen eine wohnliche und gemütliche Atmosphäre. Wir essen zu dritt im Freien. Bruno zeigt auf seiner Kamera die Bilder, die er vom Museumsdorf gemacht hat. So bekomme ich doch noch einen schönen Eindruck davon. Anschließend wird es bald kühl und alle gehen gegen 22 Uhr ins Bett. Es ist immer noch nicht ganz dunkel.
Samstag, 30. Juni
Gegen 6.30 Uhr werde ich wach. Bruno, der als Erster aufgestanden ist, hat schon Kaffee gekocht.
Wir frühstücken gemeinsam. Kaffee, Saft, gutes Landbrot mit mindestens sieben verschiedenen Marmeladen, Milch, Butter - eben wie Gott in Frankreich.
Dann geht es weiter. Bruno ist als Erster weg, nicht jedoch
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