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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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bevor wir Adressen ausgetauscht haben. Für ihn ist die Pilgerreise in Cahors zu Ende, seine Arbeit ruft ihn wieder.
    Ich starte wenig später. Es ist erst halb neun. So früh bin ich schon lange nicht mehr weggekommen, dazu gut ausgeschlafen und verpflegt und außerdem von Francois noch ausgerüstet mit einer Heilfolie für mein schmerzendes Schienbein. Francois, der wohl kurz nach mir aufgebrochen ist, holt mich bald ein. Wir laufen bis Pech Merle zusammen. Dort trennen sich unsere Wege. Er möchte sich auf meine Anregung hin die höchstwertvollen Höhlenmalereien anschauen. Ich habe sie im letzten Urlaub vor zehn Monaten wiedergesehen und so begeistert davon erzählt, dass beide, Bruno und Francois, sie sich anschauen werden. Man sieht Mammuts, Pferde, Hände und sogar einen authentischen versteinerten Fußabdruck eines Steinzeit-Jugendlichen. Da ich mich entschieden habe, sie diesmal nicht anzusehen, verabschieden wir uns. Ich will auf einer winzigen Landstraße auf dem Höhenrücken oberhalb des Célé- und des Lot-Tales wandern und St. Gély oder Le Vers ansteuern.
    In Le Vers komme ich um 13 Uhr an, kaufe Brot und gönne mir zwei köstliche schokoladengefüllte Krapfen, welche die verbrauchte Energie sofort zurückbringen. Im Ort gibt es einen Campingplatz. Aber jetzt, nach nur 17 Kilometern schon Schluss machen? Nein! Also gehe ich weiter, überquere auf einer engen Brücke den Lot und wandere entlang der schmalen Straße Richtung Arcambal. Das Sträßchen hat praktisch keinen Autoverkehr, schlängelt sich durch Wald und unter steilen Felsen entlang und gibt gelegentlich Blicke frei auf den Lot und sein Felsenufer. Eine wunderbare Landschaft, die mich etwas an den Donaudurchbruch bei Weltenburg erinnert. Eidechsen huschen an den Felsen entlang, einmal fliegt mich ein Hirschkäfer an, dem ich mich kaum erwehren kann. Als endlich ein altes Haus auftaucht, mache ich Rast, schreibe ein wenig und fülle meinen Wasserbedarf auf. Um halb drei laufe ich weiter. Es geht mir gut, aber ich weiß, dass ich aufpassen muss. Mein Bein ist dank der Heilfolie, die mir Francois gegeben hat, ohne Beschwerden. Ich fühle mich noch kräftig. Doch gerade an solchen Tagen neige ich zum Übertreiben. Diesmal will ich achtsamer sein als vorgestern.
    Kurz nach der Rast zweigt ein noch schmaleres Sträßchen rechts ab, das hoch über dem Lot-Tal durch Eichen- und Buchsbaumwälder führt. Unten auf dem dunkelbraunen Wasser des Flusses ziehen Ferien-Hausboote vorbei. Schließlich erreiche ich Arcambal auf der Hälfte der Strecke von Vers nach Cahors, mache Rast in einem Straßencafé und trinke ein Bier.
     
    Ab und zu ist es gut zu rasten, da ich manchmal erst in der Ruhe merke, wie erschöpft ich bin. Beim Laufen stellt sich ein Trott ein, der die Wahrnehmung dafür trübt. Der Wirt, als er hört, dass ich nach Cahors will, bietet mir an, mich mit dem Auto hinzufahren, neun Kilometer. Ohne zu überlegen lehne ich ab. Es ist mein Vorsatz, keinen Kilometer in Richtung des Weges anders als zu Fuß zurückzulegen.
    Je weiter der Tag fortgeschritten ist, desto heißer ist es geworden. Schaffe ich die neun Kilometer noch? Ich denke schon! Also geht es weiter. Bald hinter Arcambal führt die rot-weiße Markierung direkt an den Lot und es geht auf einem verwunschenen Uferpfad, der dem Märchenbuch entsprungen zu sein scheint, unaufhörlich vorwärts. Er ist angenehm zu laufen, trockener, aber federnder Erdboden.
    Ein alter Mann, der gerade seine Felder versorgt, spricht mich an. Er ist 86 Jahre alt, erzählt, dass er in Auschwitz deportiert gewesen sei und dann als 23-Jähriger 200 Kilometer marschieren musste, als die Russen näher rückten. Er erzählt von einem jungen Deutschen, der in seinem Dorf Deutschunterricht gibt, von seinem Sohn, der auch Deutsch gelernt hat. Er spricht von der traurigen und blutigen Geschichte von Frankreich und Deutschland und dass es wichtig sei, dass sich die Menschheit weiterentwickle. Er spricht von Adenauer und de Gaulle, die gezeigt hätten, dass die Völker sich trotz der Geschichte verstehen können und davon, dass wir Menschen, so unterschiedlich wir auch seien, im Grunde in unserer Menschlichkeit gleich sind. Dann wünscht er mir bon courage für meine Pilgerreise und verabschiedet sich mit einem Handschlag. In Gedanken über diese Begegnung laufe ich weiter.
     
    Kurz vor Cahors endet der Uferweg, der bisher am Lot entlangführte, wird betonierte Straße. Jetzt spüre ich plötzlich mein rechtes

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