Laufend loslassen
wunderbare alte Fresken aus dem 14. Jahrhundert, darunter die symbolischen Darstellungen des Evangelisten Lukas, des Stiers und von Markus, dem Löwen. Diese wunderbaren kleinen Kirchen am Weg mag ich. Immer wieder geben sie einen Raum der Versenkung, des Innehaltens im ruhelosen Vorwärtsstreben, des Schutzes. Die Kraft des Gebets von Jahrhunderten wird erahnbar.
Schließlich erreiche ich gegen 17 Uhr Figeac, finde die Pilgerunterkunft im Karmel am linken Ufer des Célé, wo Fritz und Ulrike mir schon einen Platz reserviert haben. Herzlich werde ich empfangen, bekomme Tee und mein Bett. Ich freue mich, da ich merke, dass andere sich um mich kümmern und Vorsorgen. Das tut mir gut.
Später gehe ich noch ins Stadtzentrum, lasse die lebendige Stadt mit ihren vielen gotischen Häusern auf mich wirken und kaufe ein paar Dinge für das gemeinsame Abendessen ein. Um 19 Uhr sitzen wir zusammen. Fritz hat Kartoffelsalat nach einem Bamberger Familienrezept fabriziert, die Belgierin aus Malmedy, die mich in Conques so aufmunternd begrüßt hat und ihre Begleiterin sind auch da. Sie sind von Belgien in mehreren Jahren in Etappen bis hierher gegangen und wollen noch weiter bis Rocamadour, einem Wallfahrtsort an einer nördlichen Variante des Jakobswegs. Dann kommt noch Francois, der aus dem französischen Grenzgebiet bei Genf stammt und nach Santiago will. Wir unterhalten uns lebhaft, speisen gut. Danach spüre ich erst richtig, wie erschöpft ich heute bin. Erträumt hatte ich mir einen gemütlichen Abend in einer Altstadtkneipe, aber die Realität sieht anders aus. Ich bin froh, um 21 Uhr ins Bett gehen zu können.
Das ist auch etwas, was mich der Weg lehrt: Nicht mein Wille geschehe, sondern das geschieht, was wirklich ansteht, zumindest wenn ich den Botschaften von Körper und Seele folge. Dann gibt es auch nicht das Gefühl, etwas versäumt oder verloren zu haben. Ich lerne vom Weg: Nur wenn wir uns an unsere Vorstellungen klammern, wenn wir nicht loslassen können und die innere Wirklichkeit nicht lenken lassen, sondern wenn wir unsere Vorstellungen und Konzepte aufrechterhalten, so wie wir denken, dass es sein soll, dann entsteht Leid, die Erfahrung von Verlust und fehlender Befriedigung. Im anderen Fall sind wir im Einklang mit der Wirklichkeit und innerlich stimmig. Ich schlafe ruhig und fest.
Donnerstag, 28. Juni
Gut ausgeschlafen wache ich um 6.30 Uhr auf. Ich frühstücke mit Fritz und Ulrike und der Helferin, die freiwillig für eine Woche hier Dienst tut und sonst in einem Krankenhaus in Toulouse arbeitet. Während andere aufbrechen, hole ich mir noch Geld in der Stadt. Francois, den ich bei der Rückkehr beim Frühstück treffe, hilft mir zu der Entscheidung, doch durchs Célé-Tal zu gehen und damit eine nördliche Variante zum GR 65 nach Cahors zu nehmen. Mir ist das Tal sowieso ans Herz gewachsen, seit ich mit der Familie vor 20 Jahren zum ersten Mal da war und wo ich vor einem knappen Jahr wieder Urlaub gemacht habe. Der Eindruck dieses Urlaubs war die Weichenstellung für die Entscheidung, den Jakobsweg zu gehen. Kurz nach neun breche ich auf. Es läuft heute gut, ça marche bien. Ich pilgere auf mir unbekannten und bekannten Wegen durch eine Landschaft, die mir vertraut ist. Kurz vor Brengues, es ist schon Abend, winkt mir Bruno vom Campingplatz zu.
„Plus loin?.“, fragt er. Noch weiter?
„Ja.“, rufe ich ihm zu.
Er erwidert: „Jusque à demain!.“ Ja, bis morgen dann. Ich werde ihn sehen, er steht immer bald auf. In St. Sulpice, das ich mit angehenden Sehnenschmerzen am rechten Schienbein gerade noch rechtzeitig erreiche, ist der Campingplatz schon im Abendschatten, der Platz, den ich heute unbedingt erreichen wollte, weil meine Zeit hier vor etwa zehn Monaten so wichtig war für meine Entscheidung, den Jakobsweg zu machen. Ich baue das Zelt auf, pflege mein Bein, esse Käse und Brot und trinke Wein.
Es ist ein Hauch von Vergänglichkeit um die Situation. Ich werde jetzt am Abend ein paar Stunden hier sein, morgen noch ein paar, dann bin ich schon weiter. Ich esse ein besonders gutes Brot, morgen wird es gegessen sein. Alles ist so flüchtig. Das lehrt mich der Weg. Alles existiert nur einen Augenblick. Worauf ich mich gestern gefreut habe, jetzt ist es da, morgen ist es vorbei. In Figeac werden andere Pilger herzlich begrüßt, erleben die Tischgemeinschaft für einen Abend. Ich sitze hier auf dem Campingplatz, für den es mir wichtig war, heute über 30 Kilometerweit
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